Tragödie der Stalinisten

Es war im Juni '89, als ich im Schlafwagen irgendwo zwischen Rostow am Don und Moskau Alexander Beks „Ernennung“ verschlang, jene Geschichte des Alexander Leontjewitsch Onissimow, der durch den 20. Parteitag 1956 aus blinder Ergebenheit gerissen, plötzlich zum Nachdenken gezwungen wird, weil er die Welt nicht mehr versteht.

Lange genug war ich dem Buch in der DDR vergeblich nachgelaufen, dort in Rostow hatte ich es endlich erstehen können. Ein Buch der Perestroika, bereits '65 von Bek abgeschlossen, aber erst '86 in der Sowjetunion erschienen, sein letztes Buch.

Nun die Wiederbegegnung mit Ausschnitten im DDR-Fernsehen, in der Aufzeichnung einer Matinee des Maxim Gorki Theaters Berlin.

Das Bild zeigt nicht mehr als jemanden, der liest. Den Reiz machten für mich allein die vermittelnden Kommentare Dr. Ralf Schröders aus, der Beks Buch in den historischen Kontext stellte.

Onissimow wird Volkskommissar für Panzerbau, und die Panzer siegen. Alles andere wird verdrängt. Aber wir wissen inzwischen, was auch Onissimow gewußt haben muß: Die kriegsmitentscheidenden Katjuschas waren bereits '38 entwickelt, die Rote Armee hätte schon '39 damit ausgerüstet sein können und nicht erst 42/43, aber ihr Erfinder saß bis dahin im Lager und wurde erst rehabilitiert, als es um alles oder nichts ging. Da klingt es wie ein schlechter Witz, daß die Katjuschas dann ausgerechnet „Stalin-Orgel“ genannt wurden. Der hatte am allerwenigsten dafür getan. Schröder warnt, die Psyche vergangener Funktionäre aus heutiger Sicht moralisierend zu betrachten.

Es ging damals nicht um Argumente, es ging um Ergebenheit: „Die da oben haben recht. Ich bin Soldat der Revolution, und der Generalsstab hat zu befehlen!“ Schröder hat beweiskräftig die Eskalation des Konflikts zwischen Gläubigkeit und Wissen in Beks Buch aufgearbeitet, die Bloßstellung der gesellschaftlichen Mechanismen, die Opfer und Täter brauchten.

Bezeichnend schließt Schröder mit seiner Interpretation aus Brechts „Wer aber ist die Partei?“: „Wenn die Partei den falschen Weg geht und du den richtigen, ist dein richtiger der falscheste, denn du gehst ihn allein.“

Martin Miersch