Dresdner Elegien am Zwinger

■ Tristesse in einer ganz normalen Gaststätte am Dresdner Zwinger /Hat der Ausverkauf bereits schon stattgefunden?

Eine Reise in die Vergangenheit ist doch noch möglich. Das ungemütliche Wetter treibt die kalten Hände und den Rest des Körpers in's „HO am Zwinger“. Slalomlauf durch Türen und Vorhänge, voil, eine breite Garderobe. Jacken-Abgabe ist Pflicht, außer man gibt sich als Journalist aus. Die breiten Treppen hinauf, eine Tür-Steherin empfängt die Gäste im weiß -schwarzen Kellner-Dreß. Sie steht drei Stunden später noch da („Sitzen ist nicht erlaubt“).

„Kann man den Laden hier kaufen?“ - „Nein, der ist schon verkauft,“ kommt es von weiter hinten, „an Mövenpik.“ Gratulation! Das Haus steht in bester Lage, gegenüber dem Zwinger, es hat mehrere gastronomische „Leistungszentren“: eine Bier-Stube im Keller, Restaurant, Caf-Bar, und diesen, diesen Raum vor meinen Augen. Disco soll hier heute sein? Zwei große Boxen, lautes Bum-Bum, Lichtorgel, aber, also dieser Raum...

Rund sechs Meter hoch, dreißig bis vierzig Meter lang, fünfzehn breit, rechteckige Säulen. Die deckenhohe Fensterfront versteckt sich hinter fast bis zum Boden reichenden vergilbten Gardinen. Streng angeordnete Tischreihen, vier umgestülpte Gläser und ein Blümchen auf jedem Tisch, Deckchen drauf, fertig. Von der Höh‘ reichen schmuddelige Lampen herab, sie sehen den Lautsprechern vom Neumarkt recht ähnlich und verbreiten gedämpftes Licht, so sie funktionieren.

Darunter schwirren die Kellner umher, die in der entspannenden Farbkulisse ihre förmlich-feinen Bewegungen gekonnt vollführen. In der warmen Luft künden nur der Baß und die TänzerInnen von der Vernichtung der Vergangenheit. Neben DDR-Look (Wühltisch-Jeans und hellbraunes T-Shirt auf bleicher Haut) finden sich viel frisch eingekaufte West -Klamotten, bunter, edler, geschminkter.

Eine Mischung aus 50er Tanzlokal und 80er Musik.

Zu anderen Zeiten schwätzen hier Reisegesellschaften bei Kaffee und Kuchen, Rumänen, Tschechen, „die von drüben sind die nettesten Gäste.“

Was sagt der Geschäftsführer zu der neuen Lage? War er doch bis Januar SED-Mitglied, was man ihm auch ansieht: Weiße Haare, leichte Segelbräune, gepflegtes Äußeres im Nadelstreifenanzug; von jahrelangem Streß, Druck oder Angst keine Spur, Linien von Wahrheitsgewißheit ziehen sich durch sein Gesicht, sie sind bis heute nicht recht unterbrochen.

Ungebrochen auch sein Selbst-Belügen. Seine Areit bestehe nur aus Auf- und Zuschließen der Räume, Aufpassen, Polizei zu Hilfe holen bei Schlägereien oder „Schwierigkeiten“ mit Betrunkenen. Er lehnt jede Verantwortung ab, wälzt sie ganz auf die Person des Direktors, habe nur für den technischen Ablauf gesorgt. Dabei verschweigt er, daß jeder Betrieb eine „Grundorganisation der Partei“ gewesen ist, er auch auf dem Posten des stellvertretenden Parteivorsitzenden der HO -Dresden gewesen war. Der aufmerksame Beobachter merkt ihm schon beim Reden an, von Gastronomie, vom Betrieb, von der Arbeit dort hat er nicht den blassesten Schimmer. Die hatte „nur der Direktor“ zu verantworten, doch er verstrickt sich schon im nächsten Widerspruch:

„Wir haben alle Dinge nur im Interesse der Mitarbeiter gemacht.“ Warum hat er die Rechtfertigung nötig? Wie paßt das zum Fall des Kellners, der sich weigerte, den Abwasch zu machen und am nächsten Tag entlassen wurde?

Die „Mitarbeiter“ mußten unterschreiben, daß sie sich mit Westlern nicht unterhalten dürfen.

Die Bewerbung für die Weiterqualifizierung brachte viele in Konflikt mit sich und ihrem Kopf. Wer als Meister später ein Kollektiv leiten werde, so die Argumentation der Kaderleitung, müsse auch Vorbild sein. Dies verlange ein Bekenntnis, das man den Staat ehre und verteidige. Wer so zur DDR stehe, der könne doch auch gleich in die Partei eintreten. Und schon stand der Mensch auf dieser Ebene vor der Frage: Gewissen oder bescheidener Aufstieg.

Ist denn heute nicht alles anders?

Die Kaderleiter sind zwar nicht mehr in der Partei, doch es ist noch kein Kopf gerollt, einer deckt den anderen.

Streiken wird nicht erwägt, das bißchen Lohn möchte man nicht gefährden; daß dabei eine kräftige Lohnerhöhung herauskommen könnte, der Gedanke kommmt nicht, man hat eher Polen als abschreckendes Beispiel im Kopf. Es herrschen Frust, Wut, Angst und Ratlosigkeit vor, LMAA-Stimmung kommt auf. Die Kellner wissen nicht, wie sie ihre guten Ideen umsetzen können in greifbare Verbesserungen. Der Ruf der Gewerkschaft ist ruiniert, sie hat alles mitgemacht.

Die Zukunft ist ungewiß.

Der Geschäftsführer will zum Thema „Verkauf“ nichts sagen, das sind „Gerüchte“. Sein Gesicht sagt etwas anderes, dementieren hat er nie gelernt. Der Direktor „führt Gespräche“.

Entlassungen der Hälfte der 300 Angestellten? „Gegenwärtig denke ich nicht an diesen Sachverhalt, weil die gesetzlichen Grundlagen fehlen.“ Außerdem sei das das Problem der nächsten Regierung. Ignorant und arrogant, als könne ihn das nicht betreffen. Doch wer wird unter den 150 neuen Arbeitslosen sein, die fähigen Kellner oder der abgehalfterte Partei-Apperatschik?

Stefen Niemeyer