Eine neue „Alija“ kommt nach Israel

Hunderttausende sowjetischer Juden sollen nach Israel auswandern und in den besetzten Gebieten angesiedelt werden / Die Ansiedlungspolitik war einer der Gründe für das Auseinanderfallen der Regierung Shamir / USA und UdSSR sind irritiert  ■  Von Martina Döring

Vorgänge in der Sowjetunion, die bei den großen Umwälzungen dort eher am Rande stehen, haben im Nahen Osten, vornehmlich bei den Palästinensern, Panik ausgelöst. Tausende jüdische Bürger der Sowjetunion haben in der Folge antisemitischer Ausfälle und der wachsenden Pogromstimmung Ausreiseanträge eingereicht, sitzen auf gepackten Koffern oder haben das Land bereits verlassen. Ihr Ziel ist Israel und dort, so befürchten die Palästinenser, vor allem die besetzten Gebiete.

Kamen im vergangenen Jahr bereits 12.700 Sowjetbürger, so werden es in diesem Jahr schon wesentlich mehr sein. Die Schätzungen gehen sehr weit auseinander. Laut Volkszählung von 1989 leben 1,377 Millionen Juden in der Sowjetunion. 1979 waren es noch 1,811 Millionen. Im vergangenen Jahr beantragten 102.000 Juden die Ausreise, 52.971 verließen das Land. Nur 13.000 gingen nach Israel.

Das Exekutivkomitee der zionistischen Weltorganisation erwartet für 1990 etwa 30.000 Auswanderer, die ins Gelobte Land ziehen. Tel Aviv spricht von 750.000 sowjetischen Juden in den nächsten drei Jahren. Bei den antisemitischen Tendenzen und der wirtschaftlich prekären Lage in der UdSSR ist dies keine Wahnvorstellung und daß sie sich nach Israel wenden, auch nicht.

Erst vor wenigen Wochen haben die USA, bisher Hauptanlaufpunkt, die Einwanderungsquote für sowjetische Juden auf 50.000 pro Jahr halbiert. Andere Länder kündigten ähnliche Maßnahmen an.

Also bleibt nur noch ein Weg offen. Der nach Israel. Welche Konsequenzen dies hat, und welche Hoffnungen Israel daran knüpft, offenbarte sich in einer Rede von Israels Premier Shamir am 14. Januar vor Veteranen seiner Partei, dem Likud. „Wir werden eine Menge Raum brauchen und jeder wird hingehen können, wohin er will“, sagte er. Shamirs Traum vom Groß -Israel, das die besetzten Gebiete einschließt, scheint in Erfüllung zu gehen, ohne daß offiziell etwas dafür getan werden muß. Denn auch wenn der gesunde Menschenverstand vielen Neuankömmlingen gebieten sollte, sich nicht freiwillig in die besetzten Gebiete zu begeben, wo die Situation durch die Initifada und die brutale Terrorpolitik zum Zerreißen gespannt ist - es bleibt ihnen eigentlich nichts anderes übrig. Zudem gibt es wirtschaftliche Gründe, die den Zustrom dorthin kanalisieren werden. In den jüdischen Siedlungen und vor allem im Westjordangebiet stehen viele Wohnungen leer, die Mieten sind niedriger und es werden günstige Kredite und Beihilfen gewährt.

Für alle Beteiligten hat diese Ansiedlung bzw. deren Absegnung von Regierungsseite beträchtliche Folgen. Die Regierung Shamir erteilt damit - wenn auch indirekt - eine strikte Absage an eine Lösung des israelisch -palästinensichen Konflikts und an eine Zukunft der besetzten Gebiete, die die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts des arabischen Volkes von Palästina

-in welcher Form auch immer - zum Inhalt hat. Das ist nichts Neues, denn diese Absage liegt auch in direkter Form vor. Ein derartiger Zustrom bedeutet aber nicht nur, daß die Reihen der Armee und Polizei mit jungen Männern aufgefüllt werden, ebenso Frauen, da es in Israel die Wehrpflicht auch für diese gibt. Durch eine dichtere jüdische Besiedlung der besetzten Gebiete werden auch Tatsachen geschaffen, die dann das größte Hindernis darstellen werden, kommt es wirklich einmal zu Verhandlungen.

Zudem erhofft sich Israel, nicht unbegründet, einen positiven Einfluß auf die gegenwärtig ziemlich miserable wirtschaftliche Lage. Zwar wird es gerade zu Beginn ziemliche Schwierigkeiten in der Wohnungs- und Arbeitsplatzbeschaffungsfrage geben, doch erwartet wird durch den Zustrom langfristig ein Wachstum des Bruttosozialprodukts um sechs bis sieben Prozent. Die Einwanderer werden nicht nur die palästinensischen Arbeitskräfte ersetzen, die infolge des Boykotts den Arbeitsplätzen in Israel fernbleiben - was insbesondere das Baugewerbe hart traf. Langfristig verfügen die Neuankömmlinge über eine willkommene und immense Kaufkraft.

„Nebenbei“ würden sich auch die demographischen Sorgen erledigen, die Israel schon seit einigen Jahren plagen. Bislang hielten sich Aus- und Einreisezahlen die Waage, wobei sie sich oftmals hin zu den Ausreisen neigte. Diejenigen, die das Land verließen, nannten wirtschaftliche Gründe, aber auch die Frage der Sicherheit und die instabile politische Lage. Schließlich befindet sich Israel seit mehreren Jahrzehnten in einem zum großen Teil selbst verschuldeten permanenten Kriegszustand. Daran hat sich nichts geändert.

Im Gegenteil. Die Demographen sagen voraus, daß sich der Anteil der Araber an der Bevölkerung in Israel durch eine im vergleich zur jüdischen wesentlich höhere Geburtenrate verstärkt. Bis zum Jahr 2000 rechnen sie damit, daß sich der Anteil der Palästinenser von heute 17,6 Prozent (645.000) auf 20 Prozent erhöhen wird. Von den demographischen Verhältnissen im Palästina-Gebiet - Westjordanland und Gaza -Streifen - ganz zu schweigen. Die forcierte Besiedlungspolitik jeder Regierung in Tel Aviv hat zwar für politische Spannungen gesorgt, aber das ungleiche Verhältnis Araber-Juden in diesem Gebiet nicht nennenswert verändert. Dort leben heute nur 15.000 Siedler - aber 1,7 Millionen Palästinenser. Ein Sprecher der PLO bezeichnete die mögliche und wahrscheinliche Ansiedlung als Kriegsakt, der entsprechende Aktionen provozieren könnte. Zudem droht die PLO an, alle Bemühungen um eine Lösung einzustellen.

Die UNO nannte die kommenden Geschehnisse rechtswidrig und verurteilte den Zustrom, wenn er in die besetzten Gebiete führen sollte. Dies sei eine Verletzung der 4. Genfer Konvention, unter der auch die Unterschrift eines israelischen Vertreters steht. Laut Artikel 49 dieses Dokuments hat eine Okkupationsmacht kein Recht, einen Teil ihrer eigenen Bevölkerung in das von ihr besetzte Territorium umzusiedeln.

Die Sowjetunion, von den arabischen Staaten zu einer Stellungnahme gedrängt, wandte sich an Israel. Die UdSSR wünsche, so hieß es, daß durch die Einwanderung den Palästinensern kein Schaden zugefügt werde. Ein frommer Wunsch angesichts der Situation im Staate Israel. Denn wo sollen soviel Leute hin? Allerdings nutzte die Sowjetunion die Möglichkeit, ihren Unmut auch praktisch zu demonstrieren. Sie weigert sich bislang, das Direktflugabkommen zwischen Aeroflot und El Al zu unterzeichnen. (Anm. d. Red.: Seit Donnerstag befaßt sich auch der UN-Sicherheitsrat auf Antrag der UdSSR mit der israelischen Siedlungspolitik).

Ähnlich wie die UdSSR zeigen auch die USA ihr Mißfallen. Man gedenke keineswegs, Israel amerikanische Finanzhilfe zu geben, wenn diese für die Ansiedlung der sowjetischen Juden in den besetzten Gebieten verwendet würde. Delegationen der Arabischen Liga sind nun um Gespräche mit den beiden Großmächten bemüht, um diese zu massiverem Handeln aufzufordern. Was die Sowjetunion aufgrund ihres Verhältnisses zu Israel und unter dem Druck der nationalen Bedingungen kaum kann, ist vielleicht eher von Washington zu erwarten. Doch die USA stecken im Zwiespalt, den langjährigen Bundesgenossen bei der Stange halten zu wollen und gleichzeitig die arabischen Staaten nicht zu verärgern. Ohnehin sind beide Staaten kaum noch in der Lage, massiven Druck auf den jüdischen Staat auszuüben. Die Sowjetunion ist außerstande, die Ausreise zu stoppen oder ihr eine andere Richtung zu geben, und dem Einfluß der USA auf Israel setzt Israel schon seit einiger Zeit sichtlich Grenzen, da es sich zunehmend verselbständigt und es auch bei anderen Gelegenheiten auf eine direkte Konfrontation ankommen läßt. Beispiel: der amerikanische Friedensplan - Baker-Plan genannt - von dem noch nicht ein Stück verwirklicht ist. Einsicht der israelischen Regierung ist auch in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Welche Kraft also könnte abwenden, was sich da anbahnt?