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Bedeutend weniger Übersiedler

■ Bonn hebt Notaufnahmeverfahren per 1. Juli auf / Nur Ruhe vor dem nächsten Sturm?

Gähnende Leere. In der Weite des vom Senat im November ob des großen Aussiedleransturms angemieteten Fabriketage in der Marienfelder Großbeerenstraße verlieren sich die Mitarbeiter der Bundesaufnahmestelle sowie des Notaufnahmelagers Berlin-Marienfelde. Seit Montag fließt der Strom der ausreisewilligen DDR-Bürger immer spärlicher. Waren am Montag immerhin noch 199 Zugänge zu verzeichnen, so sind es am Mittwoch bis um zwölf lediglich 56.

„Das ist wahrhaftig dramatischer Rückgang“, erklärt Frau von Barany, die hier die Übersiedler mit den ersten auf sie zukommenden Formalitäten vertraut macht. „Normalerweise haben wir an Wochentagen bis zu 250 Personen zu betreuen.“ Und selbst die 56 seien nicht alles Neuankömmlinge. „Darunter befinden sich eine ganze Anzahl von Leuten, die wir aus den verschiedensten Gründen zum zweiten Mal herbestellt haben.“

Ganz offensichtlich hat der Ausgang der Volkskammerwahlen viele, die bereits auf gepackten Koffern saßen, dazu bewogen, sich ihren Entschluß noch einmal zu überdenken. Welche Gründe aber nennen diejenigen, die trotz allem noch die DDR verlassen? „Ich wollte schon immer rüber“, erzählt Ina P., die gerade dabei ist, einen Fragebogen auszufüllen. „Aber vorher ging's nicht - ich bin erst am Sonnabend achtzehn geworden.“ Petra S., (19): „Ach, weißte, ob wir nun die Wiedervereinigung kriegen oder nicht - das spielt doch überhaupt keine Rolle. Wir werden immer die 'Ossis‘ bleiben, ob nun mit oder ohne D-Mark. Und ich hab‘ absolut keinen Bock, mich dauernd von arroganten Bundis so von oben herab behandeln zu lassen.“

Und Dirk F. (20) meint: „Lieber jetzt als später. Selbst wenn es einen wirtschaftlichen Aufschwung geben sollte - der kommt doch nicht von heut auf morgen. Da fasse ich lieber noch die ganze finanzielle Unterstützung ab, solange es sie noch gibt.“

Damit ist allerdings wirklich bald Schluß, hat doch das Bundeskabinett in Bonn am Dienstag beschlossen, das Notaufnahmeverfahren für DDR-Übersiedler per 1. Juli 1990 aufzuheben. Ab dann werden auch einige finanzielle Begünstigungen für die „Ost-Flüchtlinge“ - so die bisher gezahlten 200 DM Überbrückungsgeld und das 4 000 DM hohe zinsgünstige Einrichtungsdarlehen - nicht mehr gewährt.

Die Entscheidung, die Bundesinnenminister Schäuble auf einer Pressekonferenz in Bonn mitteilte, ist umstritten. So war vor allem aus den Reihen der SPD der Vorwurf zu hören, der Regierungsbeschluß vom Dienstag sei mehr als halbherzig. Schließlich stelle der Termin des 1. Juli eine Einladung an die DDR-Bürger dar, ihr Land auch weiterhin unter günstigen Konditionen verlassen zu können.

Allerdings entbehrt die Entscheidung der Bundesregierung tatsächlich nicht einer gewissen Merkwürdigkeit. Wird doch damit jedem Übersiedler aus der DDR, der bis zum 30. Juni dieses Jahres in die Bundesrepublik kommt, de facto der Status eines politischen Flüchtlings zuerkannt. Letztendlich kann das nur heißen, die Bundesregierung in Bonn ist der Meinung, daß auch in der nun CDU-regierten DDR die Notwendigkeit bestehen kann, aus politischen Gründen die Flucht zu ergreifen.

Konsequenter dagegen ging die SPD-geführte Regierung des Saarlandes vor. Sie hatte am Dienstag das Notaufnahmeverfahren für DDR-Bürger völlig abgeschafft. Sozialministerin Chritiane Krajewski begründete ihre Entscheidung damit, daß sich nach der Wahl die Verhältnisse in der DDR so verändert hätten, daß die „Geschäftsgrundlage“ für das Notaufnahmegesetz entfallen sei.

Ob und wie sich die Absetzbewegung gen Westen fortsetzen wird, ist bisher noch nicht abzusehen. Nicht ganz ausgeschlossen ist es aber, daß kurz vor Toresschluß - dem 1. Juli also - noch einmal ein Run auf die bundesdeutschen Notaufnahmelager einsetzt.

Olaf Kampmann

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