Deutschland: Sag „Nein“ zur Wiedervereinigung

Von Michael Lerner, Herausgeber des „Tikkun magazine“, Oakland, USA  ■ G A S T K O M M E N T A R

Hätte sich das deutsche Volk, Ost und West, in den vergangenen 45 Jahren einer ernsten Entnazifizierung unterworfen, wäre jedes deutsche Kind gezwungen gewesen, sich mit dem Antisemitismus auseinanderzusetzen und zu einem Verständnis zu kommen, wie dieser perverse Rassismus Leute dazu gebracht hat, Hitler 1933 demokratisch zu wählen, und hätte es einen systematischen Versuch gegeben, die starren, von den deutschen kulturellen Normen gestützten Charakterstrukturen zu entwurzeln, dann würden wir uns ganz anders fühlen, wenn wir die Deutschen eine potentielle Wiedervereinigung feiern sehen.

Aber wenn wir von einem wiederauferstehenden Nationalismus hören, wenn wir lesen über die auf den Ruinen der Berliner Mauer tanzenden Deutschen, die faschistische Lieder gröhlen, dann müssen wir uns fragen, warum die amerikanischen Besatzer Deutschlands 1945 zu denken schienen, daß Faschismus und Antisemitismus nicht länger ein Problem waren und daß die Deutschen sich als „Opfer“ Hitlers betrachten durften, als ob 1933 irgendwie ein Virus das Land befallen hätte, der 1945 geheilt wurde.

Obwohl die westdeutsche Regierung Reparationen an einige direkte Opfer des deutschen Faschismus gezahlt hat, hat sie nie versucht zu verstehen, was im kulturellen, psychologischen und intellektuellen Leben Deutschlands es war, das Hitlers Popularität ermöglicht hatte. Die traurige Wahrheit in den Vereinigten Staaten ist es, daß in dem Versuch die Deutschen auf unsere Seite des kalten Krieges anzuwerben, wir nie auf eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Wurzeln des Faschismus in Deutschland gedrängt haben und durch die Zielstellung der Wiedervereinigung nationalistischen Gefühlen Vorschub geleistet haben. So, jetzt haben wir gewonnen - und es ist ein tragischer Fehler.

Ostdeutschland war genauso schlimm. Viele Juden in den kommunistischen Parteien Osteuropas, begierig, ihre internationalistische Gesinnung unter Beweis zu stellen, haben nie wirklich gefordert, daß die Ostdeutschen eine ernsthafte Kampagne gegen den Antisemitismus führen. Ich lehne die These ab, daß die Deutschen „ihre Zeit gedient“ haben und jetzt ihre Vergangenheit vergessen können. Das deutsche Volk weigert sich immer noch, ernsthaft die Verantwortung für die monumentalen Tragödien zu übernehmen, die es über den Rest der Welt gebracht hat. Das zeigen die Zeremonien in Bitburg, wo SS-Tote geehrt wurden, und das zeigen die Versuche deutscher Historiker, die deutsche Rolle im Zweiten Weltkrieg neu zu bewerten - als einen legitimen Versuch, die Ausbreitung des Kommunismus zu stoppen.

Deutschlands historische Amnesie ist beunruhigend. Das Ereignis der Wiedervereinigung hätte einen ganz anderen Sinn haben können. Hätten sie die Kenntnis ihrer Vergangenheit, die die Spaltung Deutschlands verursacht hat, nicht unterdrückt, dann würden vielleicht die beiden Gesellschaften der Frage der Wiedervereinigung vorsichtiger gegenüber stehen. Mit einem tiefen Bewußtsein der Gefahr des Nationalismus. Die öffentliche Diskussion über die Aussichten einer neuen Nation wäre nicht so sehr auf die Frage, wie schnell die Ostdeutschen kleine Kapitalisten werden können, gerichtet, sondern vielmehr darauf, wie eine neue deutsche Nation das Modell einer Gesellschaft sein könnte, in dem rechtsextremer Nationalismus keinen Platz hat und in dem Rassismus verachtet wird. Deutsche würden besprechen, was ihr Land jetzt tun könnte, um die von ihnen in Mittel- und Osteuropa angerichteten Schäden wiedergutzumachen.

Wenn die deutsche Wiedervereinigung auf dieser Art von Denken gegründet wäre, wenn der deutsche Nationalismus als eine Kraft für Frieden und Versöhnung zwischen den Völkern wirken würde, dann würde ich mich nicht so vehement einer Wiedervereinigung entgegenstellen.

Viele jüdische Liberale sind überzeugte Anwälte des Prinzips der Selbstbestimmung, sie unterstützen selbst das Recht der Palästinenser, einen entmilitarisierten Staat in der Westbank zu gründen. Aber nationale Selbstbestimmung ist kein absolutes Recht - es hat auch Begrenzungen. Jüdische Selbstbestimmung, zum Beispiel, kann keine Herrschaft über das palästinensische Volk einschließen, und palästinensische Selbstbestimmung darf die Juden nicht ins Meer schieben.

Im Namen der deutschen nationalen Selbstbestimmung waren Dutzende von Millionen Menschen in einem sinnlosen Kampf ums Leben gekommen, und Millionen von Juden wurden systematisch zu Tieren gemacht, entmenschlicht und dann vernichtet. Und jetzt, im Namen des gleichen deutschen Nationalismus, sollen wir das Recht der Ost- und Westdeutschen zur Wiedervereinigung anerkennen. Das ist absurd.

Das Ende des kalten Krieges sollte ein Moment sein, in dem man sich eine neue Art von Internationalismus vorstellt, nicht eine Wiederkehr des Alten, Historischen. Zu oft haben die von den kommunistischen Herrschern unterdrückten Nationalismen versteckte Unterstützung von den Massen bekommen, gestützt von reaktionären Phantasien, Xenophobie, christlich-religiösem Fundamentalismus und Antisemitismus. Diese Krankheiten beeinflussen immer mehr Gegenden Mittel und Osteuropas, die nicht mehr von der Sowjetunion kontrolliert werden. Die Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung kann nur andere europäische Nationalismen fördern, die noch einmal zur Bedrohung werden könnten, die Welt in ein Blutbad zu stürzen. (Das Tikkun magazine‘ ist eine jüdische Zeitschrift für Politik und Kultur.)