Krupp und Flick gewinnen den Frieden

■ Ein Gespräch mit dem jüdischen Historiker Walter Grab über den Fall der Mauer in Berlin und über das deutsche Datum 9. November

taz: Walter Grab, Sie sind 1938 von den Nazis aus Österreich vertrieben worden. Welche Gefühle hatten Sie, als Sie vom Fall der Mauer in Berlin gehört haben?

Walter Grab: Die Nachricht vom Fall der Mauer am 9. November 1989 erweckte in mir ein unangenehmes Gefühl, weil am gleichen Tag im Jahr 1938 das Pogrom stattfand, mit dem die endgültige Auslöschung der jüdischen Existenz in Deutschland begann. Der 9. November hat noch andere Bezüge: Das ist der Tag der Niederlage Deutschlands 1918 und der Tag, an dem Hitler 1923 seinen Marsch zur Feldherrnhalle in München versuchte. Daß ausgerechnet an diesem Tage die deutsche Einheit wiederhergestellt wurde, ist für mich ein düsteres und unangenehmes Symbol. Aber das sind die Gefühle von jemandem, der nicht nur Historiker, sondern auch Verfolgter und Vertriebener ist. Die sogenannte Revolution in der DDR war in Wirklichkeit die Restauration des Kapitalismus. In Deutschland wird also eine Restauration als Revolution ausgegeben. Das erinnert mich an den Satz von Marx, geschrieben schon 1843: »Die Deutschen haben die Restaurationen der modernen Völker geteilt, ohne ihre Revolutionen zu teilen. Sie waren immer nur einmal in Gesellschaft der Freiheit, am Tage ihrer Beerdigung.« Der Bankrott der deutschen Kommunisten hat dazu geführt, daß die DDR an die Bundesrepublik angeschlossen wurde. Und das allerdings hat mir vieles in Erinnerung gebracht. Der Anschluß der DDR hat gewisse Ähnlichkeiten mit dem Anschluß Österreichs an Nazideutschland.

Inwiefern?

Aus drei Gründen: Ich bin gebürtiger Wiener, und ich war dabei, als über eine halbe Million Menschen — das heißt fast ein Drittel der großen Stadt Wien — Hitler am 13. März 1938 begeistert zugejubelt haben: »Ein Volk, ein Reich, ein Führer!« Ich habe mir das damals mit Entsetzen angehört, und nun haben die Menschen in Berlin und Leipzig nach 51 Jahren wiederum gerufen: »Ein Volk!« »Ein Reich, ein Führer«, haben sie allerdings nicht gerufen, und Kohl hat auch keine Ähnlichkeit mit Hitler. Aber die rasende Begeisterung, angeschlossen zu werden, war ähnlich und ebenso die Ursache: Denn es ging den Leuten in der DDR schlecht, ebenso wie in Österreich — das kleine Land von 6 Millionen Einwohnern hatte 1938 eine halbe Million Arbeitslose. Der zweite Punkt bezieht sich auf die polnische Westgrenze. Das ist keine unwichtige Grenze, denn die Ansprüche der Nazis auf polnische Gebiete haben den Anlaß zum Zweiten Weltkrieg gegeben. Und bis vor kurzem erkannte die Bundesregierung die polnische Westgrenze nicht an. Laut einem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts besteht das alte Deutsche Reich in den Grenzen von 1937 weiter. Dieser Beschluß ist bis heute noch nicht revidiert worden. Hier liegt eine Möglichkeit der Expansion nach dem Osten vor.

Aber besteht auch der Wille?

Bei gewissen Kreisen besteht der Wille, zum Beispiel bei den Vertriebenenverbänden.

Aber die Vertriebenenverbände haben doch keinen großen politischen Einfluß mehr.

Ja, gewiß. Aber ich möchte doch sagen, daß Kohl, der kein Vertriebener ist — er stammt ja aus der Pfalz —, in der Frage der Verhandlungen mit Polen wie auf Eiern getanzt hat. Das wichtigste ist jedoch die dritte Parallele: Dieselben Kräfte, die Hitler im Krieg unterstützt haben, sitzen auch heute in Deutschland an den entscheidenden Schalthebeln der Macht. Krupp und Flick wurden beide nach 1945 als Kriegsverbrecher verurteilt; beiden ist nichts passiert, sie haben ihr Vermögen vermehrt, und der Flick-Bestechungsskandal hat gezeigt, welch großen politischen Einfluß dieser Konzern besitzt. Die wirtschaftlichen Strukturen, die zur Zeit der Nazis bestanden, bestehen auch heute noch fort. Gewiß hat Deutschland kein Interesse, ein anderes Land zu überfallen. Aber heute herrscht Hochkonjunktur. Hitler kam auch nicht in der Hochkonjunktur der Weimarer Republik zur Macht, sondern erst, als die Demokratie in der Krise abgewirtschaftet hatte.

Aber die Deutschen können doch überhaupt kein Interesse haben, im Osten einen Krieg anzufangen. Sie sind doch an guten Handelsbeziehungen interessiert...

Das stimmt, aber militärischen Aggressionen wie zu Zeiten Wilhelms oder Hitlers sind in Europa veraltet. Die moderne Methode ist, andere Länder nicht militärisch, sondern ökonomisch zu überwältigen. 1980, als Reagan zur Macht kam, haben die Amerikaner beschlossen, dermaßen aufzurüsten, daß die Sowjetunion nicht mithalten konnte. Fünf Jahre später mußte Gorbatschow den Bankrott erklären. Die Sowjetunion ist heute ein offener Markt für den Westen, und Deutschland ist nicht nur die größte Macht in West-, sondern auch in Osteuropa. Die ungeheure Macht der Deutschen wird nicht auf Panzern, sondern auf wirtschaftlicher Überlegenheit beruhen, und sie wird nicht nur bis Stalingrad, sondern bis nach Wladiwostok reichen. Die Kräfte, die die Nazis unterstützt und den Krieg verloren haben, werden den Frieden gewinnen, und ein ungeheurer Markt von 400 Millionen hungrigen Kunden wird ihnen im Osten zu Füßen liegen.

Woran liegt es, daß die Linken in Deutschland sowenig mit dem Begriff Nation anfangen können?

Der Begriff Nation war in Deutschland immer eine Domäne der Rechten. Die nationale Idee verwischt die Klassengegensätze zwischen Besitzenden und Besitzlosen, Ausbeutern und Ausgebeuteten. Die Nazis sprechen von einer »nationalen Volksgemeinschaft«. Die Linken müssen aber aufgrund ihrer Ideologie die Klassengegensätze betonen, und deshalb ist ihnen die nationale Ideologie fremd. Dieses Gesetz gilt aber nicht überall. In Frankreich hat die Revolution unter der Fahne der Nation gesiegt, und es gibt dort einen ausgesprochen linken Patriotismus. Das zeigt sich in den nationalen Symbolen. Der Nationalfeiertag am 14.Juli ist der Tag des Sturms der Bastille, die Trikolore ist die Fahne der Revolution, und die Hymne, die Marseillaise, ist der Gesang der Sanscoulotten. In Deutschland hingegen ist kein nationales Symbol revolutionär! Schwarzrotgold waren 1813 die Farben der sogenannten Burschenschaften, die gegen Napoleon kämpften, den Erben der Revolution. Und die Hymne lautet »Deutschland, Deutschland über alles!« — Das heißt natürlich »Einigkeit und Recht und Freiheit«, wissen wir; aber jeder, der die Hymne hört, denkt an die erste und nicht an die dritte Strophe. Das Überwertigkeitsgefühl, das Herrenmenschentum ist in diesen Worten spürbar. Die alte Hymne Deutschlands »Heil dir im Siegerkranz« war eine Huldigung an den Kaiser, der 1870/71 den Erbfeind, das Land der Revolution, besiegt hatte. Und der bisherige Nationalfeiertag ist besonders absurd. Meines Wissens gibt es nirgendwo einen Nationalfeiertag, der eine Niederlage feiert. Und der 17. Juni war eine Niederlage des Aufstands gegen Ulbricht. Die Bundesrepublik feierte also verlorene Kämpfe. Revolution und Demokratie entstammen ein und derselben Wurzel, denn der Versuch, Selbstbestimmung und Demokratie zu erreichen, ist nur im Kampf gegen die konservative Obrigkeit möglich.

Nationalismus wird in Deutschland zunehmend populärer. Rudolf Augstein kommentierte die Kritik von Elie Wiesel an der Wiedervereinigung folgendermaßen: Die Juden hätten kein Recht, Deutschland Vorschriften zu machen, die »israelischen Knochenbrecher« seien schließlich auch kein Vorbild. Wie denken Sie darüber?

Augstein ist nicht plötzlich vom Saulus zum Paulus geworden — das war auch schon vorher zu merken. Daß Rabin über die palästinensischen Aufständischen gesagt hat: »Brecht ihnen die Knochen«, ist natürlich verwerflich und muß angeprangert werden, aber das hat nicht das Allergeringste mit der deutschen Einigung zu tun. Daß Augstein jetzt auf dem hohen Roß sitzt, hat mit dem Umstand zu tun, daß Israel die materielle Wiedergutmachung der Deutschen angenommen hat und daß den Juden damit der Mund gestopft ist. Die Bundesrepublik hat seit 1953 drei Milliarden an Israel gezahlt, hauptsächlich auf den Druck Amerikas hin, das damals an der Aufstellung der Bundeswehr gegen die Sowjetunion interessiert war. Es ist eine Unverschämtheit Augsteins, jetzt zu sagen, niemand hat uns hereinzureden. Hätten die anderen Völker 1914 und 1933 den deutschen Politikern hereingeredet und den Griff nach der Weltmacht verhindert, dann wären der Menschheit zwei Kriege, Auschwitz und Gaskammern erspart geblieben. Jeder, der vor der neuen Machtentfaltung Deutschlands Angst hat, hat diese historischen Beispiele vor Augen. Interview: Ayala Goldmann