Nähe als ästhetisches Prinzip

Gespräch mit Peter Turrini über die Uraufführung seines Stückes „Tod und Teufel“ am Wiener Burgtheater  ■ Von Dieter Bandhauer

In Wien kam vergangene Woche Peter Turrinis jüngstes Stück Tod und Teufel am Burgtheater zur Uraufführung (siehe auch Kritik). Wilfried Minks in Hamburg und Alfred Kirchner in Berlin planen gleichfalls eine Inszenierung im kommenden Jahr. Im Vorfeld der Wiener Premiere war vom Herausgeber einer katholischen Zeitschrift Strafanzeige wegen Blasphemie und Pornographie gegen Burgtheater- Direktor Peymann gestellt worden. Im Nachhinein zeigte sich die Presse enttäuscht: der Skandal war ausgeblieben. Mit Peter Turrini, Jahrgang 1944, sprach in Wien Dieter Bandhauer.

Dieter Bandhauer: Ihr Stück „Tod und Teufel“ trägt den Untertitel „Eine Kolportage“. In der Burgtheaterinszenierung ist aber — abgesehen von einigen episodenhaften Nebenfiguren, die anscheinend nicht anders in den Griff zu bekommen waren — davon wenig zu merken. Regisseur Peter Palitzsch hat ganz im Gegenteil versucht, einfühlsam psychologisch plausible Figuren zu gestalten.

Peter Turrini: Ich habe den Begriff der Kolportage nicht buchstäblich gemeint, sondern ironisch. Was wir von solchen Schicksalen oft wahrnehmen, ist die journalistische Kolportage, die verkürzte und reduzierte Geschichte von Menschen. Ein Theaterstück verlängert und vertieft diesen verkürzten Blick. Wenn Palitzsch die Figuren genau und mit ihrer Geschichte zeigt, dann tut er das, was auch die Aufgabe dieses Stückes ist, nämlich zu zeigen, was hinter der Kolportage liegt. Die Kolportage ist die Spitze des Eisberges, die Seite 4 der 'Kronen-Zeitung‘, der ausgestellte, denunzierte und kriminalisierte Mensch. Und das Theaterstück ist die lange und ausgiebige Beschreibung dessen, was darunter liegt.

Die Aufführung von „Tod und Teufel“ hätte ja auch eine schrille Revue werden können. In Palitzsch' Inszenierung aber, die von einem ungetrübten Glauben an das Subjekt getragen war, hat es ganz gehörig gemenschelt.

Ich bin ein Dramatiker, der viel von den Menschen, die er auf die Bühne bringt, wissen muß. Damit ich viel von ihnen weiß, brauche ich viel Nähe zu ihnen — das mag dann auf Sie den Eindruck des Menschelns machen. Für mich ist es wichtig, mich auf die Absurditäten, Grauslichkeiten und Schönheiten meiner Figuren einzulassen. Damit ich Nachricht geben kann von diesen Menschen, ist das Ausmaß an Nähe, das ich zu ihnen habe, sehr groß. In solchen Phasen befinde ich mich oft am Rande der Selbstzerstörung. Und dann gibt es in meinem Leben immer wieder den Punkt, wo ich damit aufhöre und mich in die Position des Beschreibenden begebe, weil ich sonst verloren wäre. Ich denke, mein Leben ist ein einziges Hin und Her. Das drückt sich dann auch in meinen Wohnorten, meiner Art zu wohnen aus. „Tod und Teufel“ ist in einer Klosterzelle, in völliger Isolation geschrieben worden.

Sie haben in einem anderen Interview gesagt, sie seien „ein Mensch, der katholisch ist“. Wie praktizieren Sie diesen Ihren Katholizismus?

Überhaupt nicht. Ich bin in dem Sinne katholisch, als ich in einem und auf dem katholischen Land aufgewachsen bin. Ich bin nicht katholisch, sondern ich bin durch und durch katholisch geprägt. Dieser Kindheitskatholizismus — der im wesentlichen in einer Gottesfigur besteht, die rächend, strafend und beobachtend alles begleitet, was man tut — ist wohl eine der Wahnsinnig-

keiten und Obsessionen meines Lebens.

Gegen Ihr Stück wurde der Vorwurf der Pornographie und der Blasphemie erhoben. Martin Schwab spielt die Hauptfigur, den Pfarrer Christian Bley, als Schmerzensmann, der sogar die Schlußszene, in der er sich an den Kasten nagelt, ohne Verletzung religiöser Gefühle über die Bühne bringt. Könnte man nicht so den stürmischen Applaus bei der Uraufführung und die — im Vergleich zur Wiener Aufführung des „Stellvertreters“ — geringfügigen Proteste interpretieren?

Ich weiß es nicht. Die kommenden Vorstellungen werden vielleicht anders verlaufen. Für mich ist sowohl die Öffentlichkeit als auch das Publikum keine Kategorie mehr, mit der ich mich beschäftige. Nicht aus einem Hochmut heraus, sondern es gibt in der Kunst einen Versuch zur Wahrheit, einen Versuch zur Selbststörung, der, wenn er gelingt, für die Zuhörer und Zuschauer etwas bedeuten kann. An der Figur des Bley — um auf diesen Punkt Ihrer Frage zu kommen — interessiert mich z.B., ob nicht der Kreuzestod, die Aufopferung, der größte Irrtum des Christentums ist. Welch ein grandioses Davonschleichen. Wenn Leid in dieser Welt ist, ist es das Leichteste, sich irgendwo festzunageln und zu sagen, ich kann leider nichts mehr tun, ich kann nur pathetisch die Sünden dieser Welt auf mich nehmen. Nicht umsonst sagt Bley als letzten Satz in diesem Stück: „Jetzt hätte ich wirklich gerne eine Hand frei.“ In diesem großartigsten aller religiösen Bilder, nämlich in der Kreuzigung Jesu Christu, liegt auch eine großartige Lächerlichkeit.

Wenn Sie sagen, daß Sie die Öffentlichkeit nicht interessiert, können Sie trotzdem nicht igniorieren, daß Sie als Schriftsteller nicht nur auf der Ebene von Kunst und Literatur agieren, sondern auch auf der Ebene des Marktes. Wird der Künstler heute nicht in die fatale Situation gebracht, daß er mit seiner Kunst nur noch dann Aufsehen erregen und Umsatz machen kann, wenn es ihm gelingt, in den Medien von der Seite der Kultur auf die Seiten der Politik zu wechseln?

Das ist möglich, wie Sie es beschreiben. Aber das hat mit mir nichts zu tun. Möglicherweise werden ein paar hundert Karten mehr verkauft, weil ein grenzdebiler Landtagsabgeordneter zu meinem Stück einen Kommentar abgibt. Aber das ist nicht mein Spiel. Ich bin seit 30 Jahren jener Mensch, der immer wieder die Menschen in diesem Lande und in anderen Ländern berührt hat. Das mag Ihnen jetzt größenwahnsinnig erscheinen, aber es ist so, daß etwa der Film „Alpensaga“ in der Sowjetunion vor 160 Millionen Menschen gespielt wurde, daß Stücke wie „Rozznjogd“ oder „Kindsmord“ in 20 Sprachen übersetzt wurden. Ich bin ein Mensch, der seine Autonomie und sein Publikum außerhalb des Feuilletons und auch abseits von gewissen Aufregungen gefunden hat. Ich bin ein Schriftsteller, der wirklich den Weg zu den Menschen findet. Vielleicht gehöre ich nicht einmal zur Literatur, ich fühle mich fremd in der Literatur und auch ziemlich femd unter Literaten. Ich habe eine große Nähe und Liebe zu jenen Leuten, die in meinen Stücken vorkommen. Ich gebe Nachrichten von inneren und äußeren Provinzen des Menschen und von Bereichen, von denen ich behaupte, daß ich einer der wenigen bin, der zu ihnen Zugang hat. Das bringt mich manchmal in den Wahnsinn, aber es läßt mich auch Einblicke zu Menschen finden, von denen sehr wenige etwas wissen. Das bin ich. Ich bin ganz sicher jener Schriftsteller im ganzen deutschen Sprachraum, der außerhalb der Bewertungen des Feuilletons, außerhalb dieses Hochschaukelns und Umbringens, kontinuierlich und sukzessive an die Menschen herankommt. Daß sich die Menschen in meiner Arbeit wiederfinden, ist ein Teil meiner Unverwundbarkeit.

Ihr Erfolg verschafft Ihnen Unabhängigkeit, die aber immer auch eine ökonomische ist.

Ich habe Gott sei Dank einen Verleger meiner Theaterstücke, der mir seit Jahren ein Facharbeitergehalt zahlt. Ihm gehört in Zeiten, wo viel Geld hereinkommt, das viele Geld, und mir gehört in Zeiten, wo nichts eingespielt wird, das sichere Einkommen. Ich bin auch hier keiner Konjunktur ausgesetzt.

Welchen Theatertraditonen fühlen Sie sich verpflichtet?

Manchmal empfinde ich so Verwandtschaften in der Commedia dell'arte, wenn ich lese, wie Goldini seine Stücke im Theater in Venedig aufgeführt hat, wo nur geschweinigelt wurde; oder wenn ich Beschreibungen vom elisabethanischen Theater lese, wo Blut und Sperma zu den selbstverständlichsten Flüssigkeiten des Theaters gehört haben. In der Aufführung von „Tod und Teufel“ geht es mir am besten, wenn Ignaz Kirchner das Sperma in die ersten vier Reihen spuckt. Oder mir ging es sehr gut, als in den Münchner Kammerspielen vor 15 Jahren bei der Aufführung von „Sauschlachten“ das Saufutter in das Publikum geschüttet wurde. Mein Theater findet dort statt, wo sich die Grenze zwischen oben und unten — zumindest durch Naßwerden von Kleidern — aufhebt.

Sie gelten als hervorragender Leser und Interpret Ihrer eigenen Stücke. Sind Ihnen nicht Lesungen — dieser auch von Karl Kraus und Helmut Qualtinger praktizierte Zugang zum Theater — lieber als Aufführungen, die das Problem von Umnittelbarkeit, etwa von Simulation von Sexualität, notwendigerweise nur auf eine mehr oder weniger verschönte oder stilisierte Art lösen können?

Das ist ein Punkt, über den ich zunehmend nachdenke. Werner Herzog, der mich „Tod und Teufel“ lesen gehört hat, hat zu mir gesagt, er will das Stück gar nicht auf der Bühne sehen, sondern einen Film drehen, indem er bei einer Lesung eine Kamera vor mir aufstellt und mich einfach abfilmt.

Der Erfolg meiner Lesungen hängt nicht unbedingt damit zusammen, daß ich so ein brillanter Leser bin, sondern erklärt sich aus der Nähe, die ich über Jahre hinaus zu meinen Figuren entwickelt habe. Die Figuren meiner Phantasie haben für mich oft eine Wirklichkeit, die so weit geht, daß sie gewissermaßen aus mir sprechen. Helmut Qualtinger hat immer zu mir gesagt: wir brauchen kein Theater und keine Schauspieler; wir gehen mit unseren Büchern herum und lesen das einfach allen Leuten vor. Wir waren wie zwei dicke Märchenerzähler.

Sind Sie bereit, eine Szene der Burgtheateraufführung zu erwähnen, die Ihnen besonders geglückt schien?

Die Szene in der Bahnhofshalle, wo Martin Schwab nackt in einem Schließfach sitzt. Das Problem dieser Aufführung — und dies ist keine Distanz von Peter Palitzsch — ist, daß wir manchmal nicht das richtige Bild gefunden haben. Diese Aufführung hat Bilder von großer Klarheit, Einprägsamkeit und Wahrheit gefunden. Mit manchen sind wir dagegen nicht fertig geworden. In meinem Kopf nicht und auf der Bühne nicht. Es wäre schön, wenn man immer weiter probieren könnte.

Gehören einige Szenen im Zimmer der arbeitslosen Kassiererin zu den weniger geglückten Augenblicken der Aufführung?

Ja. Es gab einen langen Diskurs zwischen dem Regieteam und mir über die Frage der Schminkerei, wenn sich Tana Schanzara für den Pfarrer schön macht. Mir war die Szene schlicht und einfach viel zu lang, das war tatsächlich ein menschelndes Auswalzen einer Episode. Das war mein Eindruck auf der Probe. Peymann und Palitzsch entgegneten dem, daß die Länge, die ich im leeren Haus empfinde, bei einer Aufführung im vollen Haus als wesentlich kürzer empfunden wird. So war es dann ja auch.