Das Caruso-Problem

Eine soeben erschienene Compact Disc-Kassette mit „Gesammelten Aufnahmen“ wirft Fragen über die Gesangstechnik des berühmten Tenors auf  ■ Von Thierry Chervel

Ein Wunder, märchenhaft, einzigartig — im Jahre 1922, ein Jahr nach dem frühen Tod des Sängers, berichtet sein deutscher Europa-Agent, Emil Ledner, über eines der denkwürdigsten Ereignisse der Berliner Operngeschichte, Carusos ersten Aida-Abend Unter den Linden 1907: „Der dritte Akt brachte etwas Außerordentliches, ein wirkliches Erlebnis! Destinn-Aida, Caruso- Rhadames, erzielten hier eine Wirkung, die all jenen, denen es gegönnt gewesen, dieser Vorstellung beizuwohnen, lange, vielleicht zeitlebens, in Erinnerung geblieben. Beide sangen das große Duett mit einem Aufwand von Tönen, die etwas Überirdisches, nichts Menschliches mehr darboten. Der Zusammenklang dieser beiden herrlichen Stimmen, Vereinigung, Ablösen, Wiederfinden, das gegenseitige Wetteifern, alles und das Schönste herzugeben, was die Kehle bieten konnte, beide in stimmlicher Disposition, welche ihre Absichten unterstützte — das war von märchenhafter Schönheit, unbeschreiblicher Vollendung und einzigartiger Wirkung. Was sich nach Beendigung des Duetts und nach Aktschluß im Berliner Opernhause abspielte, war wirklich — auch an südlichem Temperament gemessen — kein Beifall mehr, kein Jubel, kein Applaus, sondern Paroxysmus!“ (Emil Ledner, Caruso — Erinnerungen, Leipzig und Hannover 1922.)

Die Aida-Aufführung war nicht Carusos erster Auftritt in Berlin. Sein eigentliches Berlin-Debüt hatte drei Jahre zuvor im Theater des Westens stattgefunden. Damals war der Saal nach den Memoiren der Sopranistin Frieda Hempel nur zur Hälfte besetzt — Caruso sang trotzdem „himmlisch“, und das Theater füllte sich an den folgenden Abenden. Auch 1904 schon war Caruso ein Ruf vorausgeeilt, aber er bestand im wesentlichen noch aus Zeitungsnotizen über einen sensationellen neuen Tenor und ausverkaufte Häuser in Leningrad, Monte Carlo und New York. 1907 grassierte in Berlin, wie in London, Paris, Buenos Aires, bereits das „Caruso-Fieber“. Seine Überträger waren nicht mehr das Papier der Zeitungen und die Mundpropaganda, sondern Schellack, Nadel und Trichter. Caruso war der erste Plattenstar, der erste Michael Jackson der Musikgeschichte, der erste Musiker, bei dem das Live-Erlebnis sekundär wurde, weil ihm immer schon eine Konserve vorausging. „He made the gramophone“, sagte man, „and the gramophone made him.“ Die Stimme seines Herrn — das Markenzeichen des Victor-Labels, auf dem der Sänger seit 1902 veröffentlichte — war die von Caruso, und Celeste Aida-Arie hatte er bis 1907 schon viermal eingespielt. Auf den jetzt bei Bayer Records vorgelegten „Complete Recordings“ kann man sie wiederhören.

Die Frage der Höhe

Leider weiß man nichts über die Auflagen der zu Lebzeiten Carusos verkauften Platten. Sicher dürfte aber sein, daß sie die Platzkapazitäten irgendeines einzelnen Theaters um ein Vielfaches übertrafen. Dennoch fragt man sich beim Hören dieser nun auf vierzehn CDs zusammengefaßten Caruso-Aufnahmen, welche Wirkung Platten damals auf Publikum und Fachleute gehabt haben mögen und ob sie schon als ein künstlerisches Dokument wahrgenommen wurden. Erstaunlicherweise setzte nämlich gleich nach Carusos Tod und trotz seines auf Schallplatten festgehaltenen Vermächtnis' ein Streit darüber ein, wie er eigentlich gesungen, wie er es technisch bewerkstelligt habe. Zwar herrschte Einigkeit über die Einmaligkeit seiner Stimme und seiner Kunst, über sein Legato, die exquisite Einfachheit der Phrasierung, Artikulation und Textauslegung; ein empfindlicher und bis heute nicht ganz beigelegter Dissens ergab sich aber in der Frage der Höhe, der „tenoralen Quart“ vom eingestrichenen G bis zum zweigestrichenen C.

Carusos Höhe war ja — zumindest auf dem Zenit seines Könnens zwischen 1903 und 1908 — so berückend, weil seine Stimme dunkel timbriert war und das B oder C darum bei allem „Metall“ immer noch weich, golden und formbar blieben. Hinzu kamen der immer wieder als phänomenal beschriebene Atem, Carusos messa di voce, das An- und Abschwellen, also das Aufleuchtenlassen der Töne und die scheinbar mühe- und ansatzlose Attacke. Caruso kam auch ohne jene geräuschvollen Veranstaltungen aus, die ein Pavarotti heute, in seiner Verlegenheit, als ein gar als expressiv mißverstandenes Zierwerk in seine Phrasen einzubauen versucht, dieses Ächzen, Stöhnen und Seufzen, mit dem hohe Töne abgewürgt werden und das natürlich nichts anderes ist als das Straucheln eines zwar muskulösen, aber nicht eleganten Akrobaten, der es mit einer Drehung der Hand auch nicht auffangen kann. Carusos hohe Töne dagegen verklingen einfach.

Darüber entbrannte also ein heftiger Streit, denn niemand hat es Caruso bisher nachgemacht, und andererseits ist bekannt, daß auch für Caruso die Höhe kein Gottesgeschenk war, sondern daß er jahrelang hart arbeiten mußte, bis er sie um 1900 sicher erreichte. In den letzten zehn Jahren seiner Karriere, bis 1920, klang sie wieder forcierter, dies allerdings gewissermaßen ehrlicher als bei Pavarotti, ohne „peinvolles Detonieren“ (Bruns). Aber wie hat Caruso es gemacht, als er es wirklich konnte und wie ist er dahin gekommen?

Der männliche und der weibliche Mechanismus

Noch das Beiheft der vorliegenden Kassette läßt einen an der Wirkung von Schallplatten als einer doch immerhin materiellen Basis, die man auf Argumente abklopfen könnte, irre werden. Ursula Mayer-Reinach vertritt darin jene ideologische und engstirnige Theorie, die man die „Theorie des männlichen Prinzips“ nennen könnte. Caruso hätte auch die höchsten Töne ausschließlich mit Bruststimme gesungen. Diese Behauptung beruht auf den Thesen, die der berühmte Gesangspädagoge George Armin 1929 in seiner Schrift Enrico Caruso (Berlin-Wilmersdorf 1929) formuliert hatte: „Nicht, als ob Caruso wie jeder Mensch nicht auch zwei Register, zwei Mechanismen seiner Kehle gehabt hätte: ein Brust- und Falsettregister, einen männlichen und einen weiblichen Mechanismus. Aber er hat niemals das Falsettregister — die 'Kopfstimme‘ angewendet. Warum wohl nicht? Weil er instinktiv fühlte, daß dieses Register für seine Art des dramatischen Gesanges nicht zu gebrauchen war.“ Und an anderer Stelle: „Die Natur hatte — man könnte sagen, Gottlob! — Caruso keinen Ersatz in Form von konzentrierter Kopf-Falsettstimme gegeben. Carusos Stimme war wie ein Baum gewachsen, den jedes Aufpfropfenwollen von Ästen zur Karikatur gemacht hätte.“

Armins Behauptungen belegen unter anderem, daß Schallplatten damals noch nicht als Beweisstücke in die Hirne der Theoretiker gedrungen waren. Armin hätte sich nur die Celeste Aida-Aufnahmen von 1904 und 1906 anhören müssen, um beim hohen B am Schluß, das Caruso gemäß Verdis Anweisung leiser sang als heutige Tenöre — wenn auch nicht so leise wie vorgeschrieben —, in Zweifel zu geraten. Vollends widerlegt wird Armin durch Carusos Aufnahme der Magiche Note-Arie aus Goldmarks Königin von Saba von 1909. Das hohe C am Schluß: ein leises rundes weiches und flötensüßes Flageolett. So deutlich ist die Kopfstimme allerdings in keiner anderen Caruso- Aufnahme.

Äußerst bedauerlich ist hier, daß in diesen angeblichen „Complete Recordings“ eine der beiden in Freestones und Drummonds Caruso-Diskographie vermerkten Celeste Aida- Aufnahmen von 1902 fehlt. Sie hätte, gerade in der digital von Nebengeräuschen befreiten Version, einiges zur Klärung des Problems beitragen können. Freestone — dessen knappe Erläuterungen man beim Hören der leider gänzlich unkommentierten „Complete Recordings“ unbedingt zu Rate ziehen sollte — bemerkt zu dieser Aufnahme: „The final B flat is taken pianissimo as marked in the score, but it sounds rather like falsetto, although the recording, being rather muddy at this point, makes it uncertain.“ (Enrico Caruso. His Recorded Legacy, Minneapolis 1961.)

Voce di testa und Falsett

Schon 1922 hatte ein anderer berühmter Gesangspädagoge, Paul Bruns, eine Gegenposition zu Armins herrschender Lehrmeinung

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vorgebracht. Seine Theorie könnte man die der voce di testa nennen. Bruns war dem Stauen, Pressen und Stemmen der üblichen Gesangstechnik entschieden abgeneigt und versuchte, seine Schüler zu einem „freien Spiel der Luft“ zwischen Zwerchfell und Kopf anzuhalten. Dafür sei die Ausbildung des Kopfregisters vonnöten. Caruso zitiert er als Beispiel: Selbstverständlich benutze Caruso, wie alle italienischen Sänger, das hohe Register, nur sei seine „sieghafte voce di testa“, keineswegs zu verwechseln mit der abscheulichen „Schmachtlappigkeit“ und dem „Fistulieren“ des Falsetts der deutschen und auch der französichen Tradition. Deutschen Sängern werde beigebracht, ihre Stimme zu „decken“ — übrigens „ein verfängliches, fürchterlich unkünstlerisches Wort aus der Terminologie der Pferdezucht und des Gestütsreglements“. Die Sänger würden gezwungen, in die Nase hinein zu singen, den Hals bis zur Strangulation zuzuschnüren, und erzeugten damit eine oboenhafte, kunstwidrige Dünnstimmigkeit. Caruso dagegen singe bei offener Kehle in den Kopf hinein. Der ganze Kopf erklinge bei ihm als Resonanzkörper. „In diesem Schallgehäuse von der Schädelbasis zur Schädeldecke mit seinen vielen porösen Resonanzwänden, seinen membranartigen geheimnisvollen Knochenpartikelchen, seinen merkwürdigen Durchbohrungsmöglichkeiten, wie zu Flözen im Kohlebergwerk, wurzelt für uns die Möglichkeit, zu der phänomenalen Auswirkung der italienischen voce di testa einer Caruso-Stimme zu gelangen. In dem Höherkommen von Schicht zu Schicht liegt die absolute Möglichkeit der Falsettverstärkung zur Falsettfunktion. Damit wäre ein Forteton im Sinne des italienischen falsetto petto geschaffen, der schon in der Stimmbildung und in der richtigen Klangvorstellung vom großen Ton ein Gegengewicht sein könnte gegen die erdrückend falsche Auffassung der deutschen 'Bruststimme‘, die in erster und letzter Phase kein organisches Wachstum ist, sondern ein athletisches Muskelstemmen und Stauen von unten, eine Gefahr für die Stimme, eine Verkümmerung der Höhe und ein maßloser Verbrauch von körperlichen und seelischen Kräften.“ (Carusos Technik, Berlin-Charlottenburg 1922.) Und Bruns macht sich erbötig, jeden Sänger innerhalb von vier bis fünf Jahren an die voce di testa heranzuführen.

Das Ansetzen, Über- und Umschlagen des Tons

Caruso selbst hätte auf das „Caruso- Problem“ nichts zu sagen gewußt. Der große Sänger, der 1873 als das neunzehnte von 21 Kindern in eine Arbeiterfamilie geboren worden war, hatte sich eine systematische akademische Gesangsausbildung nicht leisten können. Auch seine Schulbildung war schlecht und seine theoretische Neigung gering. „Nie habe ich in all den Jahren ein Buch in seinen Händen gesehen“, sagt Carusos Agent Ledner in seinem Erinnerungsbuch. Carusos kleine Schrift How to sing gibt über seine konkreten Verfahrensweisen kaum Aufschluß, dafür über das Risiko, das er in seinen Vorstellungen einging: „Wann werde ich niedergehen? Nie betrete ich die Bühne, ohne mich zu fragen, ob ich imstande sein werde, bis zum Ende der Oper durchzuhalten. Ein bewußter Sänger ist niemals seiner selbst oder irgendeiner Sache sicher. Er befindet sich stets in der Hand des Schicksals.“ (London, Cincinniati, New York o.J.) Technische Anregungen holte sich Caruso nicht in dieser oder jener Gesangsschule, sondern in der sinnlichen Anschauung und Übung von Gesangstraditionen, die im emphatischen Sinne mündlich weitergetragen wurden — im neapolitanischen Volkslied- und Schnulzengut und in der hebräischen Liturgie, wie Ledner berichtet: „In Hamburg war's, im ersten Gastspieljahre. Eines Nachmittags trat er in mein Zimmer und forderte mich auf, ihn in die ... jüdische Synagoge zu begleiten. Ich glaubte, nicht richtig verstanden zu haben und machte ein etwas erstauntes Gesicht. 'Wohin?‘, fragte ich. Er aber, in humoristisch- dozierender Weise, antwortete: 'Ja, in die Synagoge der Israeliten. Es ist doch heute Freitag abend.‘ Auch nach dieser weiteren Aufklärung dürfte ich den Eindruck eines Blödsinnigen gemacht haben. Aber einen Einwand erhob ich natürlich nicht. Nun kannte ich Hamburg einigermaßen, hatte aber wirklich keine Ahnung, wo sich irgendeine jüdische Synagoge befinde. Der Portier des Hotels instruierte einen Droschkenkutscher, und wir wurden in eine Synagoge — irre ich nicht, in der Grindelallee — geführt. Dort hielten wir uns eine Stunde auf. Während des Abendbrods erfolgte die mich interessierende Erklärung. 'Ich habe gefunden‘, sagte er, 'daß die jüdischen Sänger in ihren Vorträgen eine eigenartige Gesangskunst und Gesangsmethode pflegen. Das 'Überschlagen‘ der Stimme, das 'Ansetzen‘ des Tones, die Behandlung der rituellen Gesänge, das Hinweggleiten über gesangliche Schwierigkeiten, die vielleicht im Wort, nicht in der Musik liegen, macht ihnen so leicht keiner nach. Aus diesem Grunde besuche ich jüdische Synagogen, wenn ich kann und Zeit habe.‘ Wir haben im Laufe der Jahre an spielfreien Freitagen und probefreien Sonnabenden die Synagogen in der Seitenstettengasse und in der Praterstraße in Wien, in der Oranienburger und Lützowstraße in Berlin, die Hauptsynagogen in Frankfurt am Main und Paris, die imposante große in Budapest aufgesucht — Caruso hörte gespannt zu, spitzte die Ohren bei jedem Vortrag des Hauptsängers—, wir fuhren nach Hause, und dort übte er eine halbe Stunde das ihm kostbar erscheinende 'Ansetzen, Über- und Umschlagen‘ des Tones.“

Mit dem „Über- und Umschlagen der Stimme“ kann nichts anderes gemeint sein als der Hiatus zwischen Brust- und Kopfregister. Caruso scheint so fasziniert davon gewesen zu sein, daß er ihn sich immer wieder zu Gehör brachte und methodisch übte. Kein Wunder, daß Bruns diese Ledner-Stelle triumphierend hochhält.

Nur ist von diesem Über- und Umschlagen auf den Platten weder aus der Glanzzeit noch aus der späteren etwas zu hören — außer dort, wo es in kleinen Verzierungen — Schluchzern usw. — deutlich und traditionsgemäß appliziert wird. Gerade zwischen 1903 und 1908 ist eine absolute Kontinuität des Stimmklangs zwischen Tiefe und Höhe festzustellen bei allerdings äußerst differenziertem Farbenreichtum. Wenn Caruso also dem Registerbruch solche Hingabe widmete, dann ganz bestimmt nicht, um ihn — wie Maria Callas es getan hat — als hörbares Kunstmittel einzusetzen, aber vielleicht, um ihn zu verstecken und ihn sich — diese Frage könnten nur Experten beantworten — als unhörbares, diskretes Kunstmittel aufzubewahren. Denn woher kommt dieser Farbenreichtum? Ist es möglich, daß Caruso sein Brust- derart in das Kopfregister übergehen lassen kann, daß es „von außen“ nicht wahrzunehmen ist? Wann hat man je eine Stimme derart changieren, oszillieren, irisieren hören wie in Carusos berühmter Aufnahme von Una furtiva lagrima, der Arie des Nemorino aus Donizettis Liebestrank, die der Sänger 1904 in voller Länge einspielte und auf zwei Plattenseiten verteilte. „Auf die Knie gezwungen“ (Bruns) — zumindest symbolisch — wird man da gar nicht von den höchsten Tönen, sondern von der mittleren und mittelhohen Lage — also vom Gesang. Gerade die „tuoni lunghi“: Körperlos können sie ansetzen, um dann erst grundiert zu werden, oder sie lösen sich umgekehrt ganz los vom Sänger, um gar nicht mehr in seiner Brust zu wohnen, sondern vor ihm ihre Schmetterlingsflügel zu spreizen oder auf der Hand zu liegen, zitternd und lebendig. Auch ist seit 81 Jahren keine Stimme so selbstlos mit einer anderen verschmolzen wie die von Caruso mit der von Johanna Gadski in O terra addio aus der Aida-Kerkerszene.

Editionsprobleme und Präsentation

Es ist gewiß ein Verdienst der Bayer Records, Carusos Aufnahmen erstmals in einer CD-Kassette zusammengefaßt zu haben, auch wenn die „Complete Recordings“ nicht so komplett sind, wie sie vorgeben: Neben der Celeste Aida-Aufnahme vom März 1902 fehlen Dai campi, dai prati aus Boitos Mefistofele, ebenfalls von 1902, und ein Duett aus Carmen von 1914. Dafür kommen allerdings ein paar Aufnahmen hinzu, die in der Freestone- und Drummond-Diskographie nicht verzeichnet sind, unter anderen die Celeste Aida-Version von 1906.

Trauriger als das Fehlen mancher Ausgaben ist die Tatsache, daß die anonymen Herausgeber der „Complete Recordings“ auf jeden Kommentar zu ihrer Editionstätigkeit verzichten. Leider muß man also auch heute noch fragen, wie ernst die Schallplatte eigentlich selbst von den professionell damit Befaßten genommen wird. Carusos Aufnahmen sind doch historische Dokumente und Quellen. Etwas mehr philologischer Respekt, wie er bei Klassikerausgaben in Buchverlagen selbstverständlich ist — oder zumindest selbstverständlicher eingeklagt wird —, wäre wünschenswert.

Die „Complete Recordings“ machen einem den Zugang zu Caruso in mehrerer Hinsicht nicht leicht. Unter anderem gibt es technische Probleme, die in einer Rezension in der jüngsten Ausgabe von 'Gramophone‘ minuziöser nachgewiesen werden, als es hier möglich ist. John B. Steane hat für diese britische Fachzeitschrift beim Durchhören der „Complete Recordings“ ab und zu eine Stimmgabel angeschlagen und mußte feststellen, daß eine ganze Reihe von Aufnahmen zu schnell oder zu langsam überspielt wurden. Das hat zur Folge, daß mehrere Aufnahmen um einen Halbton zu hoch wiedergegeben werden, andere um einen Halbton zu tief — hier ist allerdings denkbar, daß — besonders der späte — Caruso selbst schon geschummelt hat. Manchmal mögen für solche Abweichungen klangliche Gesichtspunkte eine Rolle gespielt haben, etwaige Rumpelgeräusche, heißt es, können so unter Umständen vermindert werden. Andererseits wird dadurch natürlich nicht nur der Ton, sondern auch die Farbe von Carusos Stimme aufgehellt bzw. abgedunkelt. Was in keinem Fall passieren darf, ist aber, daß zusammenhängende Szenen, die in derselben Studiositzung eingespielt wurden, um wegen der zu großen Länge auf mehrere Plattenseiten verteilt zu werden, in schwankenden Stimmungen zu hören sind. Die erste Hälfte der Aida- Kerkerszene, so Steane, ist um einen Halbton tiefer als die zweite. Ähnlich in der Gartenszene aus Gounods Faust, wo noch hinzukommt, daß sich die Editoren allzu dogmatisch an die Chronologie der Studiositzungen hielten: Die erste Hälfte der Szene ist hinter die zweite gesetzt, weil sie am Tag danach aufgenommen wurde.

Auch an den Qualitäten des zur Geräuschunterdrückung angewandten digitalen „NoNoise“-Verfahrens kann man zweifeln. Zunächst hat die raffinierteste Geräuschunterdrückung keinen Sinn, wenn nicht mit der gebotenen Sorgfalt nach den bestmöglichen Originalplatten gesucht wird — und Steane macht glaubhaft, daß besonders bei manchen späteren Aufnahmen besser erhaltene Originale zugänglich gewesen wären. Aber es gibt selbst noch Probleme, wenn die Qualität der Schellackplatten gut ist.

Allgemein ließe sich gegen die Geräuschunterdrückung einwenden, daß das Rauschen nun mal das Medium ist, in dem diese Klangereignisse stattfanden und auf das sie zugeschnitten waren und daß ohne Rauschen die Begleitung —anfangs nur Klavier, später Bläserensembles— zu sehr in den Vordergrund rückt. Aber das wäre puristisch. Das Klangbild ist noch in anderer Weise irritierend. Manchmal hat man den Eindruck, daß der mittelhohe Frequenzbereich viel zu stark hervortritt. Das kann so weit gehen, daß auf bestimmten Tonhöhen der Grundton von Carusos Stimme gelöscht erscheint, weil er von seinen Obertönen überblendet wird, was sich anhört, als würde Carusos Stimme in die zweigestrichene Oktave kippen oder als würde sich plötzlich ein Sopran einmischen. Beobachten läßt sich dieses Phänomen etwa in Testa adorata aus Leoncavallos Bohme von 1911, aber auch in anderen Aufnahmen, und geradezu schmerzhaft wirkt es sich aus, wenn man die Platten mit Kopfhörern hört. An den Originalplatten scheint es nicht zu liegen, denn die Resonanzen sind auf manchen CDs stärker als auf anderen. In Volume 8 ist die Klangqualität zum Beispiel durchgehend gut, in Volume 7 durchgehend schlecht — die Aufnahmen stammen aus derselben Zeit.

Weitaus frustrierender als jedes technische Problem ist allerdings die ungenügende Präsentation. Die Arientexte fehlen. Nun ist Gesang ein Zusammenhang von Musik und Sprache und erschließt sich in seiner ganzen Schönheit erst, wenn neben der klanglichen auch die textliche Information gegeben ist. Wie sonst sollte man Carusos Phrasierung und Artikulation schätzen lernen? Der Einwand wird durch die Tatsache nicht entschärft, daß die Bayer Records in diesem Punkt keineswegs alleine dastehen — die EMI verfährt bei ihrer neuen Maria-Callas-Kassette nicht anders. Auch der geneigteste Opernfreund hat in seinem Bücherschrank nicht unbedingt die Libretti von Massenets Le Cid, Giordanos Andrea Chenier oder Ponchiellis La Gioconda stehen. Ganz zu schweigen von den Schnulzen, Schlagern und Balladen, die in Carusos Spätzeit das Opernrepertoire immer mehr verdrängten und die übrigens bei Freestone allzu abfällig beurteilt werden: Immerhin sind sie Caruso auf die Stimme komponiert, elegisch — mit einer hinreißend buffonesken Ausnahme —, nicht zu hoch und voller trauriger verminderter Quarten, die eigentlich keine Lust haben, sich aufzulösen.

Kann sein, daß die Bayer Records schnell mit ihrer Caruso-Kassette auf den Markt kommen wollte und darum nicht so gründlich wie angebracht verfuhr. Zwei andere Labels, EMI und Pearl, bereiten konkurrierende Ausgaben vor.

Enrico Caruso: Complete Recordings, Helikon/Bayer Records BR200010-23 und Demo-CD

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