Jerusalem wurde zur verbotenen Stadt

Am zweiten Jahrestag der Proklamation eines palästinensischen Staates wurde im Gazastreifen und in Teilen der Westbank Ausgangssperre verhängt/ Niemand durfte nach Jerusalem/ Die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und israelischer Besatzungsmacht nehmen weiter zu  ■ Von Helga Baumgarten

Ost-Jerusalem (taz) — Die Proklamation eines unabhängigen palästinensischen Staates jährte sich am Donnerstag letzter Woche zum zweiten Mal. Wie schon in den vergangenen beiden Jahren verwehrte die israelische Besatzungsmacht den Palästinensern, diesen Tag zu feiern. Ausgangssperren wurden verhängt, aus den besetzten Gebieten durfte niemand die grüne Grenze nach Israel überschreiten.

Vor allem versuchte die israelische Armee, das arabische Ost-Jerusalem von seinem Hinterland abzutrennen. Auf allen Straßen der Westbank Richtung Jerusalem hatte israelisches Militär Straßensperren errichtet. Palästinenser wurden nicht durchgelassen. Für sie wurde Jerusalem, ob Ost oder West, vorübergehend zur verbotenen Stadt.

Seit den blutigen Auseinandersetzungen auf dem Tempelberg Anfang Oktober konzentriert sich die Intifada auf Ost-Jerusalem. Die Stadt bildete schon immer den pontischen Kopf des Aufstandes, aber nun werden auch die täglichen, beängstigend eskalierenden Auseinandersetzungen mit der Besatzung überwiegend in Jerusalem ausgetragen.

Die symbolische Bedeutung Jerusalems für jüdische Israelis einerseits, muslimische und christliche Palästinenser andererseits bildet den Hintergrund dafür. Als die israelische Armee im Juni 1967 Ost-Jerusalem eroberte, wurde Jerusalem sofort zur ewigen und unteilbaren Hauptstadt des sich jüdisch definierenden Staates erklärt. Die palästinensische Staatsproklamation vom November 1988 wiederum besteht auf Ost-Jerusalem als der Hauptstadt des noch zu etablierenden palästinensischen Staates. „Ohne palästinensische Souveränität über Ost-Jerusalem gibt es keine Lösung. Denn hier geht es nicht nur um Territorium. Nein, Jerusalem ist für uns ein Symbol nationaler Würde und unserer religiösen Gefühle.“ So formuliert es der palästinensische Rechtsanwalt und Journalist Ziyad Abu Zayad, Gründer und Herausgeber der hebräischsprachigen palästinensischen Zeitung 'Gesher‘, die in Ost- Jerusalem erscheint. Und Radwan Abu Ayash, Vorsitzender der arabischen Journalistenunion, betont die internationale Legitimität: „Ost-Jerusalem ist besetztes Gebiet, nicht anders als Westbank und Gazastreifen. Die Annexion durch Israel ist international nicht anerkannt, kann nie anerkannt werden.“

Am Dienstag wurden die eben zitierten Journalisten in Jerusalem verhaftet. Beide gehen, ohne reguläres Gerichtsverfahren, nur kraft der Unterschrift von Verteidigungsminister Arens, für sechs Monate in Administrativhaft: Solche Verhaftungen erfolgen noch heute auf der Grundlage der britischen Notstandsverordnungen für das damalige Mandatsgebiet Palästina aus dem Jahre 1945, die der Staat Israel nach 1948 vollständig übernommen hat. Eine Angabe von Gründen für die Verhängung von Administrativhaft ist nicht erforderlich. Das Verteidigungsministerium gab jedoch bekannt, man habe „gewichtige Beweise“, daß Abu Zayad und Abu Ayash Mitglieder der Fatah seien, der größten Organisation innerhalb der PLO. Sie hätten der Sicherheit Israels und der besetzten Gebiete geschadet und seien gar in Gewaltaktionen involviert gewesen.

Im Gazastreifen wurde Dr. Ahmad al-Yazidschi unter ähnlichen Vorwürfen gleich für ein ganzes Jahr in Administrativhaft geschickt. Wenige Tage zuvor wurde gegen die führende Frauenvertreterin in den besetzten Gebieten, Zahira Kamal, ein mehrmonatiges Ausreiseverbot verhängt.

Diese jüngste Eskalation der israelischen Politik mit ihren immer neuen Versuchen, die Intifada zu zerschlagen, erfolgt in einem Klima der Angst, das vor allem Jerusalem prägt: Kaum ein Tag vergeht, ohne daß ein Palästinenser einen israelischen Soldaten oder Zivilisten mit dem Messer angreift, ohne daß Armee, Polizei oder Siedler Palästinenser totschießen oder verletzen. Faisal Husseini, führender Vertreter der PLO in den besetzten Gebieten, spricht von einem „Dschungel“, Radwan Abu Ayash sieht überall „Chaos“ ausbrechen, und Abu Zayad drückt die unter Israelis und Palästinensern gleichermaßen verbreitete Angst so aus: „Keiner fühlt sich mehr sicher.“ Sie sind sich einig, daß die Messerstechereien von Palästinensern individuelle Verzweiflungsakte sind, keineswegs eine geplante Eskalation der Intifada.

Seit der Ermordung des rechtsradikalen Kach-Führers Kahane in New York spitzt sich die Situation weiter zu. Nach der Randale der Kach-Anhänger bei Kahanes Beerdigung in Jerusalem („Tod den Arabern“), nach ihren Drohungen gegen linke und propalästinensische Israelis, gegen israelische Araber und Palästinenser gleichermaßen — wobei Husseini an erster Stelle der Abschußliste steht — und nach dem Mord an zwei alten Leuten unweit von Nablus, offensichtlich durch ein Kach-Mitglied, wird eine neue Eskalation der Gewalt erwartet.

Als ich Hanna Siniora, den Herausgeber der Ost-Jerusalemer Tageszeitung 'al-Fajr‘, letzte Woche interviewte, wurden wir durch einen Telefonanruf der israelischen Polizei unterbrochen: Man warnte Siniora, ebenso wie andere palästinensische Persönlichkeiten, vor möglichen Attentaten durch Kach. Siniora hatte Glück, er reiste am nächsten Tag sowieso ins Ausland. Die arabischen Knessetabgeordneten verließen fluchtartig die Hauptstadt und zogen sich nach Galiläa zurück.

Faisal Husseini schien von dem Angebot einer ständigen Polizeiwache vor seiner Wohnung nicht sonderlich begeistert: Daraus könne leicht Hausarrest werden, meinte er mit ironischem Lächeln. Seit einigen Tagen steht auf dem Dach seines Hauses am Ölberg ein weißes Zelt: Junge Palästinenser schieben rund um die Uhr Wache für ihren prominentesten Repräsentanten in Jerusalem.

Für Siniora macht die Entwicklung der letzten Wochen deutlich, daß die israelischen Besatzer langsam die Kontrolle verlieren. Die in immer kürzeren Abständen verhängte Abriegelung der besetzten Gebiete, unter anderem praktisch jeden Freitag, wenn gläubige Muslime sich zum Gebet auf dem Tempelberg versammeln wollen, reflektiert dies in augenfälliger Weise.

Die politischen Sprecher der Palästinenser unter Besatzung ziehen daraus eine Konsequenz, die Siniora stellvertretend formuliert: „Wir brauchen eine dritte Partei, die eingreift, die die gespannte Lage erst einmal entkrampft.“ Nur die UNO sei dazu in der Lage. Einen kleinen Hoffnungsschimmer sieht Husseini deshalb in der Initiative von UN-Generalsekretär Perez de Cuellar. Allerdings will man von palästinensischer Seite nicht nur eine wie auch immer modifizierte Besatzungssituation.

Husseini, Siniora und Abu Zayad können sich für die Zukunft ein offenes, ungeteiltes Jerusalem vorstellen, das Hauptstadt sowohl für Israel (im Westen) als auch für Palästina (im Osten) ist. Moshe Amirav, vormals Likud und heute als Shinui- Vertreter im Jerusalemer Stadtrat, hat seine überzeugtesten Anhänger offensichtlich auf palästinensischer Seite. Denn schließlich war er es, der die Konzeption einer ungeteilten Stadt entwickelt hat, die gleichzeitig zwei Hauptstädte bilden könnte.

Doch von der Verwirklichung dieses Traumes ist man noch weit entfernt: Auf Ost-Jerusalems Haupteinkaufsstraße, der Salah ad-Din, trifft man seit Tagen weniger Jerusalemer als Polizisten, Grenzschutz- und Geheimdienstleute. Letztere verrät die kugel- und messerstichsichere Weste. Für die Palästinenser sind sie die Besatzungsmacht. Sie repräsentieren „das Gesetz“, denn alles, was sie tun, wird zum Gesetz und macht geltendes Recht null und nichtig. Das fängt bei Polizeiautos an, die schon routinemäßig alle Einbahnstraßen in umgekehrter Richtung befahren, hemmungslos doppelreihig parken, zu einem gemütlichen Schwatz oder einer Zigarette am Straßenrand. Die palästinensischen Autofahrer dürfen sich derweil in Geduld üben. Palästinenser werden verhaftet und noch im Polizeiauto verprügelt; der Passant, der eine kritische Bemerkung dazu macht, wird mit einem unwirschen „Shut up!“ abgefertigt. Und es wird hemmungslos geschossen: mit Tränengaspatronen, Plastikkugeln, „Gummi“-Geschossen mit Metallkern und eben auch mit scharfer Munition.

Ein Ende der Gewalt ist nicht in Sicht. In verzweifelter Suche nach einem Hoffnungsschimmer spinnt sich Radwan Abu Ayash einen Traum: „Ich wünsche mir eine ,Bush-Erklärung 1990‘ [analog zur ,Balfour-Erklärung 1917‘], die einen israelischen Rückzug aus den besetzten Gebieten garantiert. Alle Palästinenser würden sofort uneingeschränkt ins proamerikanische Lager umschwenken.“ Ein paar Tage später wurde Abu Ayash verhaftet.