„Das lassen wir uns nicht gefallen“

Warnstreiks und Protestaktionen gegen den geplanten Abbau der Lohnfortzahlung im Krankheits- fall/ Ärztefunktionäre, Christliche Arbeitnehmer, Gewerkschaften — alle sind gegen den Karenztag  ■ Von Martin Kempe

Eineinhalb Kilometer sind es vom entferntesten Winkel des VW-Werks in Kassel-Baunatal bis zum Haupttor. Gestern bedeutete das: eineinhalb Kilometer Protestmarsch übers Werksgelände zur Kundgebung der IG Metall gegen die von der Bundesregierung geplante Einführung von Karenztagen.

In ganz Westdeutschland protestierten gestern Belegschaften, nach Angaben der IG Metall mehr als 100.000 MetallarbeitnehmerInnen, mit kurzen Warnstreiks und Kundgebungen gegen das Vorhaben, mit dem eine der großen Errungenschaften der deutschen Gewerkschaftsbewegung durchlöchert werden soll. Allein bei den inländischen VW- Werken beteiligten sich rund 40.000 Beschäftigte an Protestkundgebungen nach der Frühstückspause um 9 Uhr. In Nordrhein-Westfalen legten rund 30.000, in Baden-Württemberg 18.000 Arbeitnehmer bis zu einer Stunde die Arbeit nieder.

Auch in Ostdeutschland kam es zu Protesten. In Sachsen beteiligten sich über 25.000 Beschäftigte. In Gera demonstrierten 800 Metaller in der Einkaufspassage. In Brandenburg ist ebenso wie in Baden-Württemberg eine Unterschriftensammlung gegen das Bonner Vorhaben angelaufen. Die stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Nahrung, Genuß, Gaststätten, Jutta Kaminsky, rief die rund 500.000 Mitglieder ihrer Organisation auf, sich am 3. 0ktober an einem Sternmarsch nach Bonn gegen die Regierungspolitik zu beteiligen.

Nicht nur die Gewerkschaften attakieren den „teuflischen Plan“ (Ursula Engelen-Kefer, stellvertretende DGB-Vorsitzende), die Leistungen für Pflegebedürftige ausgerechnet von den kranken Arbeitnehmern zahlen zu lassen. Auch der Präsident der Bundesärztekammer, Karsten Vilmar, nannte die Einführung eines Karenztages „völligen Unsinn“: „Der Blinde soll für den Lahmen zahlen, und die Gesunden marschieren ungeschoren von dannen“, charakterisierte er die Logik des Regierungsvorschlages. Auch in den Reihen der Unionsparteien regt sich Protest gegen den geplanten Eingriff in das Tarifrecht. Das gehe ans „Herzstück“ der Arbeitnehmer, meinten gestern Vertreter der Christlich-Sozialen Arbeitnehmer-Union (CSA). Der CDA-Vorsitzende Ulf Fink forderte statt des Karenztages die Abschaffung eines Feiertages, etwa des Pfingstmontags. Das bringe mehr und treffe nicht allein die Arbeitnehmer, sondern alle Erwerbstätigen einschließlich der Beamten. Prompt fing er sich einen schriftlichen Rüffel des CDU-Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Schäuble ein.

Tatsächlich ist nicht nur das Tarifrecht, sondern auch die Lohnfortzahlung selbst ein „Herzstück“ im Sozialstaatsverständis der deutschen Gewerkschaftsbewegung. Nach vielen vergeblichen Anläufen war sie 1957 von den schleswig-holsteinischen Metallarbeitern in einem sechzehnwöchigen Streik tariflich erkämpft und erst danach vom Gesetzgeber für alle Beschäftigten beschlossen worden. „Das lassen wir uns nicht gefallen“, war in vielen Betrieben der spontane Reflex der Beschäftigten. Es bedurfte keiner großen Mobilisierungsanstrengungen durch die IG Metall, um die Menschen auf die Straße zu bringen. Die Arbeiter hätten „impulsiv“ gehandelt und die Bänder gestoppt, berichtete der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende des Kasseler VW-Werks, Manfred Schmidt der taz. Die Aktion dauerte immerhin eineinhalb Stunden. 7.000 bis 8.000 Beschäftigte, fast alle zu der Zeit im Werk Anwesenden, darunter auch sehr viele Angestellte, hätten sich an der Protestkundgebung vorm Haupttor beteiligt.

Die zur Kundgebung geeilte örtliche CDU-Bundestagsabgeordnete Anneliese Augustin habe sich nur mit Hilfe des Betriebsrats gegen die empörten Unmutsäußerungen verständlich machen können. Schmidt kündigte an, die Aktion könne nach den jetzt beginnenden Werksferien mit verschärfter Gangart wiederholt werden, wenn die Regierung ihre Pläne nicht zurücknehme. Die Belegschaft könne zum Beispiel während der Arbeitszeit die örtliche CDU-Filiale aufsuchen. „Aber das dauert dann ein bißchen länger“, meinte der Betriebsrat.