ECHTER BADEKULTUR FEINDLICH"

■ Ihre Biographie ist aufs engste verknüpft mit dem wechselhaften Schicksal des traditionsreichen Badeortes Heringsdorf auf Usedom: Wenn es nach dem Willen der Rentnerin Ilse Gottschalk ginge, so führte...

Ihre Biographie ist aufs engste verknüpft mit dem wechselhaften Schicksal des traditionsreichen Badeortes Heringsdorf auf Usedom: Wenn es nach dem Willen der Rentnerin Ilse Gottschalk ginge, so führte der Weg in die Zukunft zurück in die glanzvollen Zeiten ihrer Kindheit.

VONHENKRAIJERUNDGUNDASCHWANTJE

„Es ist in Wahrheit ein Gedicht, dieses älteste der pommerschen Seebäder, ein Lied der Natur, in welchem die Seele der pommerschen Landschaft erklingt. Welch ein Zusammenklang: hier das Meer, das bald wie ein grünblauer Türkis sich zeigt, bald wie ein silberweißer Spiegel daliegt; da der weiße Strand, der in feingeschwungenen Linien sich dahinzieht; dort die Strandpromenade, von dichtem Gebüsch und Baumgruppen umsäumt, von pinienartigen Kiefern durchsetzt und mit sammetgleich geschorenem Rasen bedeckt, mit Blumenbeeten geschmückt. Dahinter die weißen Villen, wie Märchenschlösser aus Buchengrün hervorlugend. Und über dem allem thronend die ragenden Wipfel des Kulm.“

Sie klingen heute pathetisch, die Zeilen aus der „Chronik des Seebades Heringsdorf“ aus dem Jahre 1932. Ilse Gottschalk jedoch erinnern sie an ihre Kindheit. Auf ihrem Wohnzimmertisch hat die 71jährige eine Unmenge von Ansichtskarten und Schwarzweißfotografien ausgebreitet — Andenken aus einer Epoche, die man die Goldenen Zwanziger taufte. Die Heringsdorfer und ihre eleganten Badegäste rümpften damals beim Anblick der Vergnügungen der einfachen Leute im benachbarten Ahlbeck die Nase. Erinnerungen auch an die Zeit, da der unbekümmerte Hedonismus einiger weniger vom braunen Ungeist „völkischer Kultur“ verdrängt wurde. Als im antisemitischen Klima jener Jahre die Beletagen des pompösen Kurhotels Atlantic plötzlich leerblieben und während der allwöchentlichen Konzerte vor dem Kurhaus nur noch Marschmusik geblasen wurde. Erinnerungen aber vor allem daran, wie das einst so glanzvolle, exklusive Heringsdorf systematisch erstarrte und durch verordnete Schlichtheit über die Jahrzehnte verfiel.

Mit stoischer Gelassenheit haben Ilse Gottschalk und ihr Mann Kurt (78) auch die dritte historische Umwälzung in ihrem langen Leben hingenommen. Nicht mal die Wende vom Herbst 1989 hat sie aus dem Tritt bringen können: „Da muß schon was ganz anderes kommen, bis die Pommern in Wallung geraten“, witzeln beide. „Und nach West-Berlin, Kiwis kaufen, sind wir damals auch nicht gleich.“

Wenige Schritte von ihrer langjährigen Arbeitsstätte entfernt, einem „Verpflegungsstützpunkt“ des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), schlängelt sich die Kulmpromenade die Steilküste hinauf. Gleich darauf — an der alten Schering-Villa, am Kindererholungsheim „Bethanienruh“ und einigen verlassenen Villen mit bröckelndem Putz entlang — wieder hinunter, in Richtung Dorfplatz. Wo einst das neoklassizistische Kurhaus stand, dessen Fassade zuletzt der Name „Solidarität“ zierte — so erzählen es die Bilder aus Frau Gottschalks Sammlung — dominiert heute die „Platte“: Um 1980 herum wurde das mondäne, völlig intakte Gebäude, das vor dem ersten Krieg noch Kaiserhof Atlantic hieß, gesprengt — ohne Begründung. „Da wurde nicht groß gefragt, sondern abgerissen“, weiß Kurt Gottschalk. Auf den Trümmern der Nobelbleibe errichteten die Freizeitarchitekten eines ihrer berüchtigten Ferienheime Marke Plattenbau.

Der Kaiserpavillon: Symbol und Programm

In Heringsdorf herrscht ein wahrer Wildwuchs aus elegantem neoklassizistischem Baustil auf der einen und DDR-Platte auf der anderen Seite. Einem gleichsam manischem Trieb, alles Herrschaftliche aus dem Gesichtsfeld zu verbannen, war es auch geschuldet, daß etwa die wunderschöne Holz- und Glasfassade des renommierten Kaiserpavillons ohne Pardon mit billigen Brettern vernagelt wurde. In großem Stil hat der Pavillon vor kurzem den Gastronomiebetrieb wieder aufgenommen, originalgetreu sind die aufwendigen Jugendstilmalereien, die Fensterrahmen und die filigrane Holzverarbeitung freigelegt, die Inneneinrichtung instandgesetzt worden. Drei Millionen Mark hat den neuen Besitzer die detailgerechte Restaurierung gekostet. Für die Heringsdorfer ist der restaurierte Kaiserpavillon Symbol und Programm zugleich — für die Jungen eine Investition in die Zukunft, für die Alten das Relikt einer Epoche, die in ihren Augen eine glanzvollere war.

Ilse Gottschalk, Jahrgang 1921, die schon als Kind ihre Mutter zum Silberputzen bei den wohlhabenden jüdischen Sommergästen begleitete und später als 14jährige oft bis kurz vor Mitternacht an der Strandpromenade von Ahlbeck Eis verkaufte, hat die Ostseeinsel Usedom nie verlassen. Ihre Biographie ist mit dem wechselhaften Schicksal des Badeortes aufs engste verknüpft, dessen märchenhafter wirtschaftlicher Aufstieg etwa 1860 als Sommerfrische begann.

Abschied vom Pomp der alten Zeit

Die Seebäder Bansin, Heringsdorf und Ahlbeck waren zwar von Krieg und Verwüstung verschont geblieben. Von einer Renaissance der Bäderkultur konnte in der sozialistischen DDR jedoch zunächst keine Rede sein. In die seit 1945 leerstehenden Villen am Heringsdorfer Kulm zogen zunächst Flüchtlingsfamilien ein: Sudetendeutsche, Pommern, Ostpreußen, die unter dem Dauerbeschuß der Roten Armee ihre nackte Haut über die Swine gerettet hatten. Heringsdorf, einst erste Adresse für die bessere Gesellschaft aus dem nahen Berlin, war mit einem Mal nur noch ein entlegener Fleck an der Peripherie eines neuen Deutschlands, das seinen Bürgern diktierte, dem Pomp der Vorzeit radikal abzuschwören.

„Anfangs waren die Leute vollauf damit beschäftigt, sich etwas zu Essen zu organisieren“, erzählt Ilse Gottschalk. „Die Frauen fischten, die Männer waren alle fort, wenn nicht im Krieg umgekommen, und die wenigen Soldaten, die frühzeitig zurückgekehrt waren, hat „der Russe nach Sibirien verschleppt“. Sie wühlt in dem Stapel vergilbter Postkarten auf dem Frühstückstisch, begutachtet Stadtansichten, reißt plötzlich aus dem bunten Durcheinander eine Fotografie der Steilküste und deutet auf ein überaus herrschaftliches Anwesen: „Das da brannte eines Nachts. Die Häuser hier am Kulm waren ja nur in den Sommermonaten bewohnt, im Winter wurden sie vernagelt. Die Flüchtlinge mußten aber doch heizen, Öfen waren Mangelware, Holz ebenso. Da steckten sie Sägespäne in große Tonnen — und weg war der Holzpalast. Und das ist damals nicht nur einmal passiert.“

Nach Beendigung der „Aktion Rose“, bei der die Hotelanlagen zwangskollektiviert wurden und die Parteibonzen die prachtvollen Villen an der Strandpromenade in „volkseigene“ Verwaltung überführten, blieb der FDGB, an den die Erholung der Werktätigen delegiert worden war, vorerst hinter seinem Planziel zurück. In den ersten Nachkriegsjahren arbeitete Ilse Gottschalk im Finanzamt Wolgast. Ehemann Kurt, der im SED-Staat als „Zwölfender“ (Offizier der Reichswehr) disqualifiziert war, chauffierte Parteikader kreuz und quer über Usedom. Zur Aufbesserung des Familieneinkommens nahm Ilse Laufmaschen von Damenstrümpfen auf. Als sie Ende der fünfziger Jahre „die Idee hatte“, einen Handarbeitsladen aufzumachen, gab es von seiten der Bezirksstelle den nüchternen Bescheid: „Die Dringlichkeit für die Bevölkerung liegt nicht vor.“

Im Bereich „Reproduktion der Bevölkerung“ hingegen lag die Dringlichkeit wenig später offenbar sehr wohl vor. Nach einer Unterbrechung von fast zwei Jahrzehnten war Ilse wieder zurück im Geschäft mit den Touristen. „Da drüben“, zeigt sie durch das Küchenfenster auf den grauen Flachbau auf der anderen Straßenseite, „das war bis Sommer 1990 ein Ferienheim des FDGB — mit 500 Verpflegungseinheiten. Da habe ich die letzten 30 Jahre als Kaffeeköchin gearbeitet.“ Vom 23. Mai bis Mitte September kamen in 14tägigem Wechsel auserwählte Sonnenhungrige an die Ostsee und machten Urlaub für nicht mal 100 Mark pro Familie. Im Arbeiter-und-Bauern- Paradies wurden die „kostbarsten Wochen des Jahres“ vom Feriendienst des FDGB verwaltet, die „Urlaubsstützpunkte“ zentral an die VEBs vergeben.

Zum Kontingent gehörten nicht nur FDGB-Heime und kollektive „Verpflegungsstellen“, sondern auch „Außenbetten“: Seit 1961 hatten auch Ilse und Kurt Gottschalk Sommergäste. „Wir hatten bei uns unterm Dach einen Schlafplatz hergerichtet. Verpflegt wurden die Urlauber ja drüben im Heim. Nicht mal um Bettwäsche und Handtücher brauchten wir uns zu kümmern. Das wurde alles vom FDGB besorgt.“

Großer Beliebtheit erfreute sich Heringsdorf nicht nur bei den Werktätigen, sondern auch bei den Repräsentanten der Einheitspartei, die den früheren Geldadel aus der Hauptstadt abgelöst hatten. „Für Mielkes neue Residenz an der Strandpromenade haben die doch glatt zwei wunderschöne Villen weggesprengt. Der hatte einen privaten Strand, wo ihm die Dienerschaft von Zeit zu Zeit eisgekühlte Cocktails an den Strandkorb schleppte“, erzählt Kurt Gottschalk. Rauschende Feste, kalte Buffets, Westwaren, französischer Cognac inklusive, seien keine Ausnahme, sondern die Regel gewesen. „Die haben uns doch immer kurzgehalten und selbst in Saus und Braus gelebt.“

Hektisch werden die Claims abgesteckt

Mit dem Mangel soll nun Schluß sein. Die Revolution hat Farbe in den Ort gebracht. An allen Ecken wird gezimmert, gestrichen und gewienert. Wie schon in den zwanziger Jahren sind es in der Hauptsache Berliner, die das Seebad in eines ihrer Vororte verwandeln: Vor Hotelanlagen und Restaurants parken unübersehbar die Karossen mit hauptstädtischem Kennzeichen. Und beim Geschäftsessen auf der Terrasse des Kaiserpavillons teilen die allgegenwärtigen „Männergruppen“ die Filetstücke des örtlichen Immobilienmarkts unter sich auf: Im beschaulichen pommerschen Ambiente werden hektisch Claims abgesteckt. Zum Wochenende wälzt sich heute die Blechlawine über die Allee zwischen Peene und Swine, die Fahrzeit von Berlin hat sich im Vergleich zur Weimarer Zeit fast verdoppelt. Dreieinhalb Stunden dauerte damals die Reise vom Stettiner Bahnhof in Berlin über Swinemünde bis an den Ostseestrand. Die bequeme Eisenbahnverbindung, die seit 1875 von Ducherow über die Peenebrücke nach Swinemünde führte, brachte auch viele aus dem einfachen Volk nach Heringsdorf. „Samstags ging meine Mutter immer in ihrer frisch gestärkten Schürze zum Bahnhof — Gäste kapern. Nachdem der Preis ausgehandelt war, meist um die 20 Mark pro Woche, fuhr man mit der Droschke ins Dorf“, berichtet Ilse Gottschalk.

14.000 Gäste — die Besucher der Kinder- und Erholungsheime von Siemens und Krupp nicht mitgerechnet — zählte die Kurverwaltung im Jahre 1932, als durch den Bau der Usedomer Bäderbrücke auch die stundenlangen Wartezeiten an der alten Autofähre bei Zecherin der Vergangenheit angehörten. „Mit dem Auto kamen damals nur die Männer, ihre Frauen und Kinder verbrachten ja den ganzen Sommer an der See“, erzählt sie. An Wochenenden seien die Familien über die schöne alte Holzpromenade flaniert, die sich von Bansin bis Ahlbeck, zwei Meter breit und kilometerlang, am Strand entlangzog — die Frauen in ihren langen Kleidern und mit Sonnenschirm, die Männer in Gehrock und mit elegantem Strohhut. „Die Promenade war nur für Gäste da, Einheimische und Hunde durften da nicht rauf.“ Auch der Konzertplatz vor dem Kurhaus war nur mit Kurkarte zugänglich. Nach dem Baden gings's für gewöhnlich gegen Abend ins Restaurant, am Sonntag zur Rennbahn, spät abends oftmals ins Casino. Auch Modegeschäfte gab's damals schon: „Die Frauen konnten ja nicht ihre ganze Garderobe von zu Hause mitschleppen.“ In Heringsdorf verkehrten, anders als im „gewöhnlichen“ Ahlbeck, mehrheitlich wohlhabende jüdische Familien. „Die hatten ganze Etagen gemietet, brachten ihre Reitpferde mit. Es war alles so prachtvoll“, träumt Ilse vor sich hin.

Erneut wühlt sie in dem Stapel vor uns auf dem Tisch, wählt zwei, drei vergilbte Fotografien aus, eins davon zeigt die Kaiser-Wilhelm- Brücke: „Da legten damals die Ausflugsdampfer von Swinemünde nach Rügen an.“ Es war ein verwirrter Feuerwehrmann, der die Heringsdorfer Seebrücke in den fünfziger Jahren angezündet hat. Heute zeugen nur noch Holzstümpfe von der vergangenen Pracht. Auch das aufwendige in chinesischem Stil erbaute Eingangstor zur berühmten Kaiser- Wilhelm-Brücke fiel dem Feuerteufel zum Opfer .

Für Ilse Gottschalk liegt die Zukunft in der Vergangenheit. Wie die Fischer, deren farbige Kutter tagsüber auf dem Strand parken und die Heringe und Zander in den Dünen direkt an die Frau bringen, haben sie und ihr Mann Kurt die Koordinaten der neuen Zeit erfaßt: Mit der Vermietung zweier „Ferienbungalows“ hinter ihrem Haus bessern die beiden Alten ihre Rente auf. Der reale Sozialismus, so beteuern die beiden Alten, sei den Bedürfnissen der Menschen wesensfremd gewesen, „echter Badekultur“ feindlich gesinnt. Ein mißlungenes Experiment. Die Gottschalks schwärmen vom Flair der alten Zeit. „Es wird alles wieder werden wie früher — und das ist gut so.“