Zwischen Verfolgung und Poesie

 ■ Das Lied der Sonnensäufer : Otto Sander las Nazim Hikmet auf Kampnagel

Der Mann spricht türkisch. Hagere Gestalt, farbloser Anzug, die Hosen weit, der Zweireiher zu eng. „Es ist kein Herz“, sagt er ungläubig mit einer Handbewegung in Richtung der Brust: „Ein Bauernschuh aus Leder ist das!“ Vor ihm ein einfacher Holztisch mit einer Flasche Raki. Der Berliner Mime Otto Sander liest Nazim Hikmet.

Nazim Hikmet, ein Sohn der osmanischen Oberklasse, wurde 1902 geboren. Der Vater Beamter im Außenministerium, der Großvater ein mewlewitischer Pascha im Dienste des Sultans. Doch Hikmet ging als marxistischer Dichter der kleinen Leute in die Geschichte ein. Er revolutionierte Inhalte und vor allem die Form der türkischen Lyrik. 1921 schloß er sich, vom anatolischen Befreiungskrieg begeistert, dem Widerstand an; 1922 wurde er Student der Moskauer „Universität der Werktätigen des Orients“, ein Jahr später Mitglied der kommunistischen Partei. Diese freilich war in der Türkei verboten, und Hikmet wurde in Abwesenheit zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt. Bis 1950 ist sein Leben gleichermaßen von Gefängnisaufenthalten und literarischer Produktion geprägt. Erst als der herzkranke Dichter in den Hungerstreik tritt, erreicht eine internationale Solidaritätskampagne, an der sich auch Brecht, Aragon und Neruda beteiligten, seine Begnadigung.

Dreißig Jahre nach Hikmets Tod 1963 in Moskau nahm sich der türkische Komponist Tayfun Erdem seines Werks an. Der Wahlberliner

1spricht aufgebracht von der „Vergewaltigung“ und „unglaublichen Entstellung“ der Werke Nazim Hikmets und prangert damit nicht etwa faschistische Regierungsmachenschaften an, sondern die deutschen Intellektuellen. Bis heute hätten die Linksliberalen Hikmet lediglich als marxistischen Autor benutzt, als Poet aber nicht erkannt. Tayfun nun möchte „den anderen Hikmet“ vorstellen. Nicht politische, sondern ästhetische

1Qualitäten stehen im Vordergrund seines „Musik-Text-Synthese-Versuchs“ mit dem Titel Das Lied der Sonnensäufer.

Zu Kontrabaß, Klarinette, Flöte, Saxophon und Percussion liest Otto Sander mit der ihm eigenen beiläufigen Aufmerksamkeit die Gedichte und Prosa. Am Flügel komplementiert Tayfun das Gesprochene mit weich gesungenem Türkisch. Seine Musik will erzählend sein; sie untermalt nicht den Text,

1sondern hat ihre eigene Dramaturgie, schafft unabhängige Assoziationslandschaften und atmosphärische Räume. Dieses dramatische Konzert könnte gut als 70er Jahre- Produktion eines Esoterik-Jazz-Labels durchgehen. Mag es in einem ersten Schritt gelungen sein, die Ästhetik vor der Politik zu rehabilitieren, so muß es im zweiten Schritt darum gehen, Lebendigkeit als Eigenschaft von Ästhetik zuzulassen. Christiane Kühl