Wer zu spät kommt, den bestraft die Lehre

Die Vorlesungsverzeichnisse von TU und FU überschwemmen zu Semesterbeginn den Buchmarkt  ■ Von Stephan Schurr

Zweimal im Jahr werden die Buchhandlungen zu Festungen. Wenn sich im Frühjahr und Herbst die Vorlesungsverzeichnisse an den Kassen türmen, dann wissen auch jene Studierenden, die mit Vorliebe die Krimiabteilung studieren, daß es kein Entrinnen mehr gibt: das neue Semester beginnt, die nächste Runde wird eingeläutet.

Das Glöcklein ist zwar dieser Tage verstummt – längst schmiegt man sich in den Hörsälen wieder aneinander – aber nehmen wir an, er ist noch nicht ausgestorben: Herrn Minister Ortlebs Horrorstudent, der sich der Regelstudienzeit und allen Züchtigungsversuchen der Westdeutschen Rektorenkonferenz widersetzt und der auch für eine verspätete Wegweisung – wie die folgende – durch die beiden Verzeichnisse der Technischen Universität (orangeroter Umschlag, 760 S., 861 g) und der Freien (grellblau, 928 S., 937 g) froh und dankbar ist.

Wie gewohnt, erfreut uns das TU-Verzeichnis durch eine unterhaltsame Werbestrecke auf den ersten Seiten. Ahnungslose und nach Anschluß suchende Erstsemester erfahren hier, wo „man sich zuhause fühlt“ und weshalb Uwe & Manuela dem Wahnsinn anheimfielen. Achtung! Die „Fristen und Termine“ (S. 15) sowie der putzige, höchstnützliche „Stundenplan“ (21) können leicht überblättert werden. Allen Studierenden offen stehen die Sprach- und Kulturbörse (42), das Collegium Musicum (55, ärztliches Attest besorgen, der Vorsing-Termin ist schon vorbei!), mehrere „interdisziplinäre“ Vorlesungen und Seminare (59ff. und 65, u.a. „Technikgeschichte“, „Problemlösungsstrategien“ und ein „Energieseminar“) sowie eine „Katastrophenwerkstatt“ (62) – vermutlich mit Warteliste.

Glücklich, wer in diesem Semester Bergbau und Geowissenschaften studiert. Er/Sie kommt in den Genuß einer Veranstaltung (laufende Nr. 498), die hoffentlich Schule machen wird: „Aktion aktiv studieren“ ist ihr Titel. Der Begleittext: „Ziel: Straffung der Studienzeit, vertieftes Lernen, ergänzende Inhalte, bessere Leistungen. - Weg: Bessere Information, fortlaufende Beratung, Ermunterungen (!), vertiefte Betreuung (!!), Anregungen und Anleitungen in Schüben (!!!), Überprüfungen in Gruppenarbeit.“ Zulassung: „Für alle Semester“.

Musisch veranlagten Naturen seien die „Schwärmer und die Schwärmerkritik im 18.Jahrhundert“ empfohlen (89), die „Stadt(t)räume“ (456) und die „Mensuralnotation für Fortgeschrittene“ (127). Und auch ein Kindertraum wird an der TU wahr – allen Vorurteilen über die Alltagsferne der Universitäten zum Trotz – zumindest Süßigkeiten wird eine akademische Heimstatt eingeräumt: „Süßwarentechnologie I und II“ - fünfstündig (426).

Doch hinter dieser Spielart der Technologie verbirgt sich gewiß ein ganz und gar nicht süßer Ernst des Studiums. Von diesem kann sich selbst der hartnäckigste Bummelant überzeugen lassen, zum Beispiel durch bedrohlich klingende Ankündigungen wie „Theorie der Zerkleinerung“ (330), „Markscheiderische Übungen“ (485), „Analyse von Verkehrsunfällen“ (411) oder „Spezialgrundbau – Tiefenrüttlung und Rüttelstopfverbindungen“ (278). Die „Übungen im Stellwerk“ (406) hingegen verbreiten Ferienstimmung: Eine „Simulation des Betriebsablaufes in Bahnhöfen und auf freier Strecke“ ist vorgesehen.

Mehrere Veranstaltungen sind ihrer Aktualität wegen von besonderem Interesse: Die Architekten beschäftigen sich optimistisch mit der „Revitalisierung ehemaliger jugoslawischer Dörfer“ (293), das Institut für Politikwissenschaft lotet die „Parteiverdrossenheit in den Volksparteien“ aus und klärt zwei Stunden wöchentlich über die “Geschichte des Rechtsextremismus in der BRD“ auf.

Auch was das Selbstverständnis einer Universität angeht, zeigt sich die TU auf der Höhe der Zeit. „Alles Theater!?“ fragt man sich im Informatik-Hauptstudium und gibt sich im Beitext selbstkritisch: „So manche Uni-Lehrveranstaltung ähnelt mehr einer Theaterveranstaltung.“ Deren Unterhaltsamkeit wünscht man sich jedoch für die Besucher von H2013, dienstags 18-20 Uhr, beim „Abendseminar Abfallwirtschaft“.

Kommt das TU-Verzeichnis dank typographischer Sorgfalt dem nach Orientierung suchenden Generalisten entgegen – das FU- Angebot erstickt alle kultivierte Wißbegier im Keim: Hier macht's die Masse. 22 Fachbereiche, mehrere Zentralinstitute und Zentraleinrichtungen, grob geschätzt 5.000 Lehrveranstaltungen und seitenlange Namensverzeichnisse, die wie Telefonbuchauszüge zu lesen sind, erheben den Zufall zum einzig vernünftigen Auswahlkriterium. Auf dem Stundenplan eines Alles-und-Nichts-Studierenden könnte zum Beispiel die „Kritische Analyse des deutschen Vereinigungsprozesses“ stehen (357), das „Liebe und Macht“-Hauptseminar (362) oder „Carl Schmitt – feministisch interpretiert“ (361).

Ins „Dickicht großstädtischer Gewalt“ wagt sich der Politologe Wolf-Dieter Narr (362), die vielversprechendste Veranstaltung der Germanisten erörtert das „Gottestrauma um 1800: de Sade, Kant, Jean Paul, Hölderlin“ (598). Ein Kleinod dürfte sich hinter Nummer 23735 verbergen: Herr Hultsch lädt zur „Neurotheologie des Vogelgesangs“ ein. Die Ankündigung „Arthur Schnitzlers Dramen (II)“ läßt dagegen Schlimmes befürchten – der nächste Ordner aus dem Professorenschrank ist dran.

Schließlich bleibt noch der Hinweis auf die wichtigste Telefonnummer des Buches: In finanziellen Notfällen hilft S. 829. Und wer auch nach diesen Ausführungen das Vorlesungsverzeichnis nicht zu lesen versteht, gehe zu Herrn Römer: „Einführung ins Orakelwesen“. Neuägyptisch-Kenntnisse vorteilhaft.

TU-Vorlesungsverzeichnis Sommersemester 1993, Hg.: Präsident Prof. Dr. Dieter Schumann; Red: Mechthild Hoffman-Wyrwinski; Alleinversand: J.F. Lehmanns Buchhandlung. 8,- DM

FU-Namens- und Vorlesungsverzeichnis Sommersemester 1993: Hg.: Präsident Prof. Dr.iur. Johann Wilhelm Gerlach; Red: Iris Kammerer. 10,- DM