Bundesverdienstkreuz für Brigadiere

Auf einer Veranstaltung der IG Bau-Steine-Erden zum 40. Jahrestag des 17. Juni erzählten die Brigadiere Homuth und Sandow ihre Geschichte des Aufstandes / Welche Rolle spielte der RIAS?  ■ Von Anita Kugler

Als der Brigadier Heinz Homuth am Morgen des 15. Juni 1953 zu seiner Arbeitsstelle Block E-Süd in die Stalinallee zog, sprach ihn ein Kollege von der nahegelegenenen Baustelle Krankenhaus Friedrichshain an. „Wir wollen morgen gegen die Normerhöhung und die Lebensmittelpreise protestieren“, sagte er, und „Macht Ihr mit?“ „Ja“, versprach der Brigadier ihm in die Hand. Am nächsten Morgen, als sie hörten, daß die Bauarbeiter vom Krankenhaus von der Betriebsdirektion eingeschlossen wurden, gehörte Homuth zu den ersten, die losgingen, um sie zu befreien. Mit dabei war der Brigadier Günther Sandow von der Baustelle C-Süd. Fix malte er auf ein Plakat: „Wir fordern Normensenkung.“ Als Homuth und Sandow, beide in der ersten Reihe und hinter ihnen etwa 500 Arbeiter der Baustelle Block 40, am Krankenhaus ankamen, hatten die eingesperrten Kollegen sich schon selbst befreit. So „begann der legendäre Marsch der Bauarbeiter von der Stalinallee, der zum politischen Aufstand wurde“.

Günther Sandow und Heinz Homuth erzählten gestern diese Geschichte auf einer Festveranstaltung der Gewerkschaft IG Bau-Steine-Erden im Ostberliner Kongreßzentrum. Es war die einzige Veranstaltung zum 40. Jahrestag des 17.-Juni-Aufstandes, an dem nicht nur Politiker über die Bedeutung und die sich daraus ergebenden Verpflichtungen referierten, sondern die damals Beteiligten auch zu Wort kamen. Am Nachmittag erhielten die beiden, aber auch zehn andere Männer für ihr Engagement im „Volksaufstand“ das Bundesverdienstkreuz verliehen: im Reichstag, im Rahmen der zentralen Gedenkveranstaltung für die Opfer des 17. Juni.

Wenn es nach Manfred Rexin, heute Hauptabteilungsleiter für Kultur und Zeitgeschichte im RIAS gehen würde, müßte sein Sender allerdings auch einen bekommen. „Ohne den RIAS“, sagte er gestern in seiner von den Bauarbeitern mit langanhaltendem Beifall bedachten Rede, „hätte es den 17. Juni so nicht gegeben.“ Und er erzählte, wie am Nachmittag des 16. Juni plötzlich eine mehrköpfige Delegation von Bauarbeitern von der Stalinallee im Funkhaus auftauchte. Live und unzensiert wollten sie über Mikrophon den Generalstreik ausrufen. Ein Riesenwirbel war das, erinnerte sich Rexin, „Redakteure und Bauarbeiter sprachen durcheinander, manche weinten vor Aufregung“. Aber die amerikanische Leitung des Senders und die verantwortlichen Deutschen entschieden, daß nicht die Besucher zu den Hörern sprechen sollen, sondern ihre Forderungen zum Gegenstand ausführlicher Nachrichtensendungen gemacht werden sollten. Das Wort „Generalstreik“ dürfte dabei auf keinen Fall vorkommen. Und so setzten sich einige RIAS-Leute mit den Arbeitern hin und zerlegten die Hauptforderung in vier Unterpunkte, die ab 16.30 Uhr über den Äther ging. Die brisanteste Forderung, nämlich „freie und geheime Wahlen“, war Punkt drei. Später, auf den Straßen, avancierte Punkt drei zu Punkt eins.

Die Ereignisse um den 17. Juni, die lange Vorgeschichte und ihre Bedeutung in der Ereigniskette – Ungarn 1956, Tschechoslowakei 1968, mehrmals Polen und der Mauerfall 1989 – war am Montag abend auch Gegenstand einer Historikerdebatte im Reichstag. Während der vierstündigen Veranstaltung brachten es die Referenten fertig, nicht ein einziges Mal das Wort RIAS überhaupt zu erwähnen. Spannend war die professorale Sicht der Dinge trotzdem. Vor allem, wenn die ausgebreiteten Forschungsergebnisse konfrontiert wurden mit Erinnerungen von westdeutschen Gewerkschaftsfunktionären wie Georg Leber. Während dieser gestern erklärte, daß die Arbeiter „nichts anderes wollten, als ihr Einkommen durch höhere Normen nicht zu verschlechtern“, erklärte Armin Mitter dies als eine Lebenslüge. Auf Grund von Recherchen in bisher verschlossenen SED-, FDGB- und Stasi-Archiven kommt er zu dem Ergebnis, daß der Aufstand „politisch“ war und „ökonomische Forderungen zu Beginn nur deshalb im Vordergrund standen, weil Gewerkschaftsfunktionäre bei den Forderungskatalogen die Feder führten“. Ein Streiflicht aus den letzten zwei Tagen, das zeigt, daß eine ernsthafte Debatte über den 17. Juni erst jetzt, 40 Jahre später, möglich ist.