Russischer Holzhammer

■ Theateraustausch Ost-West: Das Wolgograder Jugendtheater Tjus ist zu Gast im Grips-Theater

Die Verspätung ist wohl Teil des Programms. „In Rußland geht's immer später los“, erklärt mir der Herr zur rechten. Er muß es wissen, schließlich versichert er, das russische Kulturleben monatelang als reisender Theaterwissenschaftler studiert zu haben. Nach zwanzig Minuten wird es endlich dunkel, die kleine Bühne im Grips-Bogen belebt sich. Laute Diskomusik, flackerndes Scheinwerferlicht, Action. „Die Entenjagd“ beginnt.

Das Stück von Alexander Wampilow, der 1972 im Alter von 35 Jahren im Baikalsee ertrank, ist eine Charakterstudie des homo sovieticus der Breschniew-Zeit, die Vorstellung der Auftakt eines Berliner Gastspiels des „Wolgograder Theaters für den jungen Zuschauer“. Die Geschichte vom Büroangestellten Wiktor Silow ist einfach: Affären und der Alkohol bestimmen sein Leben. Mit Freund Dima, einem Kellner seiner Stammkneipe, will er zur Entenjagd gehen. Doch einiges hindert ihn daran: Seine Frau verläßt ihn, der Vater stirbt, eine neue Geliebte kreuzt auf, Freunde spielen ihm einen üblen Streich, und immer wieder macht ihm der Alkohol zu schaffen. Der Konflikt ist selbstverständlich existentiell: Selbstmord droht, das Leben ist die Katastrophe und umgekehrt. Es ist nicht schlimm für die ZuschauerInnen, wenn sie bei dieser Aufführung kein Wort verstehen. Denn die Wolgograder Theatertruppe spielt so kraft- und temperamentvoll, daß das Hören nur eine untergeordnete Rolle spielt. Grobgeschnitzt sind die Charaktere, feinere Töne stören da nur. Wo Stimmung erzeugt werden soll, wird mit sakraler Chormusik aus dem Lautsprecher nachgeholfen. Emotionen entstehen durch Lautstärke, Erregung erzeugt Schweißperlen. Eine Inszenierung mit dem Holzhammer. Dennoch: Obgleich bei Handgreiflichkeiten auf der Bühne – Silow faßt seine Geliebte an, die Freunde umarmen sich – Knochenbrüche zu befürchten sind: Die Aufführung hat ihren ganz eigenen Reiz. (Besonders für den, der Andrea Breths „Letzten Sommer in Tschulimsk“ gesehen hat.) Dort nämlich, wo Situationen dargestellt werden, die niemand hierzulande kennt: In Silows Büro gibt es nur einen Kugelschreiber. Wenn der eine schreibt, starrt der andere in die Luft und wartet.

Willkommenes Mitbringsel zur feuchtfröhlichen Wohnungseinweihung ist ein langes Brett. Das legt man über zwei Stühle, und nun finden alle einen Platz. Und dann Aksana Sajzewa. Sie spielt die Rolle der Galina, Silows leidgeprüfter Frau, mit einer Ruhe, die nachdenklich macht – der einzige Orientierungspunkt in dieser Theateroffensive. Vielleicht ist sie die einzige unter den SchaupielerInnen, die den Wechsel bewältigt hat: vom Jugendtheater in Wolgograd, das es an Größe mit dem Theater des Westens aufnehmen kann, zum wohnzimmergroßen Grips-Bogen. Nach heftigem Applaus wurden die russischen Gäste und die BesucherInnen zum kalten Buffet geladen. In einigen Ansprachen wurde herzlichst für die „vitale Aufführung“ (Grips-Theater- Chef Volker Ludwig) gedankt. Ein Vertreter des Senats erhoffte sich eine Fortsetzung der deutsch-russischen Freundschaft – und ward nicht mehr gesehen. Der Kulturdezernent von Wolgograd tat einem daraufhin leid: Verstört und alleingelassen irrte er, mit dem Bierglas in der rechten, der Zigarette in der linken Hand, im Nachspiel zu seinem Gastspiel durch den Raum. Stephan Schurr

Tjus – Theater für den jungen Zuschauer, Wolgograd: „Die Entenjagd“ (in russischer Sprache): Heute um 20.30 Uhr im Grips-Bogen, Altonaer Straße 22, U-Bahnhof Hansaplatz