Sternstunden der Historie

■ Im Roten Rathaus schenkte Rudi den Deutschen ein Radio

„Der Rahmen hätte nicht festlicher, der Ort nicht beziehungsreicher, das Datum nicht historischer gewählt sein können“, salbaderte Ulrich Schulze, Chef vom Dienst beim Berliner Tagesspiegel, im falschen Komparativ auf der ersten Seite. Was war am Vortag geschehen? Die Ministerpräsidenten der Länder und Innenminister Seiters hatten am 17. Juni im Roten Rathaus die Staatsverträge zur Gründung des „Deutschlandradios“ unterzeichnet. Die „Zeremonie“ könne „mit Fug und Recht als für die deutsche Rundfunkgeschichte historisch bezeichnet werden“, tönte er weiter und soll dafür mit Fug und Recht als „Schulze vom Dienst“ in die Historie eingehen.

Und so war es wirklich, Rotes Rathaus, Wappensaal, 12 Uhr mittags: Die Fahnen der Länder baumeln gelangweilt von ihren Ständern, vierzig oder fünfzig Leute verlieren sich im Saal. Wer lässig eine Kamera trägt oder dezent Kabel verknotet, ist offensichtlich Journalist. Die Anzugträger mit den intelligenteren Mienen gehören zum Personenschutz, der Rest müssen die Länderchefs oder ihre Vertreter sein.

Biedenkopf ohne Frau

Ich zähle durch, komme aber nur auf sechzehn. Verwirrt zähle ich noch einmal, bis ich feststelle, daß Kurt Biedenkopf heute ohne seine Frau agiert. Dann erscheint Rudolf Seiters. Der Mann, der seinem Intimfeind Wolfgang Schäuble alles nachmacht. Kanzleramtsminister. Innenminister. Der alle Stühle einnimmt, die Schäuble für ihn angewärmt hat. Fast alle.

Laut Spiegel gilt der Osnabrücker Pfeifenrauer (raucht wahrscheinlich gerne Asylparagraphen in der Pfeife) in Bonn als „sachbezogen, ordnungsliebend, fleißig, pünktlich“ und „genau“. Wieso ist dieser Mann eigentlich Innenminister? Mit diesen Eigenschaften könnte er doch prima hinter dem Spätschalter im Osnabrücker Bahnhofspostamt sitzen, zumal er da bedeutend weniger Unheil anrichten könnte. Seiters hüstelt, die Ländervertreter setzen sich, die Presse filmt und fotografiert ein wenig. Seiters beginnt. Erzählt von den zwei Säulen, aus denen das Deutschlandradio bestehen soll, Deutschlandfunk und RIAS Berlin, und vergißt wohl absichtlich die dritte Säule namens DS-Kultur. Die Ministerpräsidenten unterzeichnen tuschelnd die Verträge, und eine unauffällige Dame achtet darauf, daß sie ihren Namen richtig schreiben. Danach behauptet Sachsenkönig Biedenkopf, daß man „in einer würdigen Zeremonie den Vertrag unterzeichnet“ habe, und Ulrich Schulze glaubt es. Als sich Eberhard Diepgen ans Mikrofon begibt, packt ein Großteil der Presse eilig zusammen. Martin Sonneborn