■ Zur konservativen Suada gegen die Pädagogik der 68er
: Das ist unsere Debatte!

„Es geht um die Generation unserer Kinder und SchülerInnen. – wir haben unsere Erziehungsziele in weiten Teilen nicht erreicht.“ So lautete meine These im Dezember 1992, geschrieben in der Absicht, über die Praxis von Erziehung kritisch nachzudenken, die sich dem mündigen Menschen verpflichtet weiß. Dabei ging es mir nicht um eine Generalabrechnung mit den 68ern. Seitdem werde ich aber immer wieder von Konservativen als Kronzeugin gegen alle emanzipatorischen Bemühungen zitiert. Nun hat auch der Kanzler zum Angriff auf die Kritische Pädagogik geblasen, als er bei seiner Regierungserklärung im Bundestag die Ursachen für die rechtsradikalen Gewalttaten direkt aus den „Reformversuchen im Bildungswesen“ herleitete.

Gleiches Thema – gleicher Sinn? Umgekehrt steht für mich fest: Gerade auch nach den rechtsradikalen Untaten der letzten Zeit ist der fundamentale Anspruch einer emanzipatorischen Erziehung notwendiger denn je. Dazu gehören die Ermöglichung eines selbstbestimmten Lebens des und der einzelnen in Rücksicht auf die Selbstbestimmung anderer, eine umfassende Aufklärung aller, Befähigung zu Kritik und zur Konfliktlösung, die Sensibilisierung für soziale Ungerechtigkeit und ökologische Probleme sowie die Stärkung zu aufrechtem Gang und Zivilcourage. Genau daran aber mangelt es!

Meine zentrale Frage lautet deshalb: Wie können wir in dieser Gesellschaft, die durch „Desintegration, soziale Auflösungsprozesse und einen utilitaristischen Gebrauch von Werten“ (W. Heitmeyer) gekennzeichnet ist, den hohen Anspruch einer emanzipatorischen Erziehung umsetzen? Dabei stellen uns die gegenüber den siebziger Jahren veränderten gesellschaftlichen Umstände vor neue pädagogische Aufgaben, müssen heute andere Erziehungsmaßstäbe gelten als vor zwanzig Jahren.

Nun kann man zum Schluß kommen, in dieser Gesellschaft sei Emanzipation ohnehin nicht möglich. Zu viele strukturelle und politische Bedingungen stünden dem entgegen. Ich halte nicht viel von derlei Pessimismus. Emanzipatorische Erziehung darf gewiß nicht mit Erwartungen überfrachtet werden. Aber sie ist eine wichtige Grundlage für ein weitgehend selbstbestimmtes Leben. Eine selbstkritische Reflexion der bisherigen Praxis ist dafür allerdings unerläßlich. In der Absicht, emanzipatorisch zu erziehen, sind Fehler gemacht worden: Das notwendige Gleichgewicht von Freiheit des einzelnen und Bindung zu anderen ist häufig einseitig zugunsten der Freiheit verschoben worden. Erwachsene haben sich in guter Absicht oder aus eigener Unsicherheit zu stark zurückgenommen, Kinder gewähren lassen, zu wenig Grenzen und Regeln aufgezeigt. Individualität bildet sich aber auch und gerade im Widerspruch.

Kinder brauchen Erwachsene, die Zeit für sie haben und von denen „jenes Zutrauen kommt, das Voraussetzung einer optimistischen Lebenseinstellung ist“ (R. Winkel). Sie brauchen Halt, Verbindlichkeiten und glaubwürdige Vorbilder, authentische Persönlichkeiten als positive Autorität. Sie müssen Selbstbestimmung ebenso lernen wie Selbstbeschränkung. In einem solchen Zusammenhang macht es auch durchaus Sinn, über „Tugenden wie Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft, Dankbarkeit und Höflichkeit, Anstand und Würde“ (Kohl) zu reden, wenn auch der Kanzler damit in Wirklichkeit etwas ganz anderes gemeint hat. Eine Belehrung über Werte, wie sie jetzt lautstark gefordert wird, bleibt allerdings wirkungslos – vor allem, wenn sie so drastisch im Widerspruch stehen zu dem, was Kinder erfahren. Kinder müssen erleben, was sie lernen sollen.

Konnten wir vor der Vereinigung und dem Zusammenbruch des Sozialismus im Osten Europas noch davon ausgehen, „daß konservative Durchmärsche in dieser Gesellschaft keine Chance mehr haben“ (Th. Schmid 1990), so hat nun auch der Kanzler ganz offen zum Kulturkampf von Rechts aufgerufen. Dies ausgerechnet aus einem Anlaß, der für die Linke den Nerv ihrer Identität trifft: War der Kampf gegen Rassismus doch in den letzten Monaten das zentrale zusammenführende Moment ihres Handelns. Die Diskussion um die Ursachen der rechtsradikalen Gewalttaten versprach der Kanzler „ehrlich“ aufzuarbeiten. Doch nicht die fremdenfeindlichen und diskriminierenden Äußerungen aus seinem und vieler anderer Politiker Mund, nicht die unsägliche Debatte und schließlich die Abschaffung des Asylrechts haben nach seiner Erklärung den Brandstiftern von Solingen und anderswo die Opfer gezeigt, sondern eine (von wem eigentlich?) „leichtfertig geäußerte Staatsverachtung“ und mangelnde Werte, die „einer Form von Selbstverwirklichung zum Opfer gefallen (sind), die in Wahrheit nichts anderes ist als ein kalter Egoistenkult“.

Dies klingt nicht nur hohl, sondern ist der Versuch, neue Sündenböcke zu finden. Kein Wort über die Verantwortung der Regierungskoalition für die gnadenlose Konkurrenz um Abschlüsse und Arbeitsplätze, für die Marginalisierung der sozial Schwachen, die Diskriminierung von ausländischen BürgerInnen, von Behinderten und anderen Minderheiten, für hemmungslose Mobilität. „Leistung muß sich lohnen!“ – „Nur wer arbeitet, soll auch verdienen!“ – „Wer nichts hat, der ist auch nichts!“ Diese Sätze prägen sich ein. Kein Mangel an Werten also: Die Richtung wird klar aufgezeigt. Wer Ellenbogen hat, benutze sie; Solidarität bringt's nicht.

Diese Gesellschaft droht an ihrem grenzenlosen Konsumismus und dem Unvermögen zur Selbstbeschränkung zu ersticken. Welch ein Begriff von „Freiheit“ und „Mündigkeit“ steckt dahinter, wenn die Mehrheit in der Verfassungskommission jeden Antrag zur Aufnahme partizipatorischer Elemente in der Verfassung rigoros zurückweist! Grund genug also für den Regierungschef in Bonn, vor der eigenen Haustür zu kehren!

Statt dessen nun aber ein erneuter Angriff auf die Zivilität unserer Gesellschaft. Auf allen politischen Ebenen will die CDU jetzt den Kampf gegen die emanzipatorische Erziehung führen, will endlich vollziehen, was 1978 ein Kongreß mit seinen Thesen „Mut zur Erziehung“ nicht geschafft hat. Dabei geht es um mehr als „nur“ um Fragen der Erziehung und Bildung. Es geht um die Hegemonie eines rückwärtsgewandten Gesellschaftsentwurfs gegen die Vision einer offenen, zivilen, demokratischen und multikulturellen Gesellschaft. Das beharrliche Leugnen der Realität von Einwanderung, die Weigerung, „Würde“ nicht nur als Würde der Deutschen, sondern aller BürgerInnen dieses Staates zu verstehen, und allen entsprechend den Postulaten der Aufklärung die gleichen Rechte zu verleihen, macht die Richtung deutlich: Reaktion statt Reform!

Es ist an der Zeit, daß Linke und reformorientierte Menschen den Ball, den uns die Konservativen zuwerfen, zurückspielen. Die Erziehungsdiskussion ist unsere Debatte, in der wir den zukunftsweisenden Anspruch haben. Wir sollten die Chance ergreifen und mit SchülerInnen und Eltern, LehrerInnen und ErzieherInnen, GewerkschafterInnen und WissenschaftlerInnen dem Konzept der Wendezeit einen öffentlichen Bildungsratschlag entgegensetzen, der auch denen wieder Mut machen könnte, die sich resigniert zurückgezogen haben. Beate Scheffler

Lehrerin, grüne Landtagsabgeordnete in NRW; ihre Ende Januar im „Spiegel“ abgedruckte Selbstkritik hatte die Debatte über die 68er und Kritische Pädagogik angefacht