Atomstrom im Osten zu billig

Weltbankstudie kommt zum Schluß, daß die Stillegung der osteuropäischen Atomkraftwerke am wirtschaftlichsten wäre – für den Westen  ■ Von Donata Riedel

Technisch und wirtschaftlich wäre es möglich, die 25 gefährlichsten osteuropäischen Atomkraftwerke bis 1995 stillzulegen. Zu diesem Schluß ist eine gemeinsame Arbeitsgruppe von Weltbank und Internationaler Energie Agentur in einer vertraulichen Studie gelangt, deren Vorentwurf vom März dieses Jahres jetzt Greenpeace zugespielt wurde. Danach würde es den Westen weniger Geld kosten, in den Umbau der Energieversorgungssysteme hin zu Gas-Turbinen-Kraftwerken zu investieren (18 Milliarden US-Dollar bis zum Jahr 2000) als die AKW vom Typ RBMK (Tschernobyl) und WWER 440/230 nachzurüsten (24 Milliarden Dollar bis 2000). Es handelt sich dabei um jene AKW, die man auch nach Einschätzung von Atomkraft-Befürwortern nicht auf deutsche Sicherheitsstandards bringen kann.

Greenpeace-Atomexpertin Inge Lindemann forderte gestern von den G-7-Staaten, „umgehend Maßnahmen zur Stillegung der osteuropäischen Schrottreaktoren zu ergreifen und den Aufbau einer nichtnuklearen Energieversorgung in Osteuropa wirksam zu unterstützen“. Die Nachrüstung sei ja erwiesenermaßen Geldverschwendung für den Westen.

Zum Jubel der Atomkraft-Gegner bietet die Studie dennoch dennoch wenig Anlaß: Für die untersuchten osteuropäischen Länder würden sich nach der Investitionsphase, die der Westen zum großen Teil zu bestreiten hätte, die laufenden Energiekosten um drei Milliarden Dollar pro Jahr erhöhen, weil sie Erdgas kaufen müßten.

Die Weltbank war vergangenes Jahr auf dem Weltwirtschaftsgipfel in München von den G-7-Regierungen beauftragt worden, bis zum diesjährigen Gipfel in Tokio eine umfassende Energiestudie zu erstellen, in der sowohl die Kosten des AKW-Weiterbetriebs als auch die einer Umrüstung der gefährlichsten Ostreaktoren in Armenien, Bulgarien, Litauen, Rußland, der Slowakei und Ukraine zu berechnen. Die Arbeitsgruppe entwickelte zu diesem Zweck zunächst zwei Szenarien. Das „atomare Niedrigszenario“ geht von der Stillegung der unsichersten und ältesten AKW bis 1995 aus, das „atomare Hochszenario“ rechnet mit ihrem Weiterbetrieb bis zum Jahr 2010.

Die Endfassung der Studie ist den sieben reichsten Industriestaaten (USA, Japan, Bundesrepublik, Frankreich, Großbritannien, Italien und Kanada) inzwischen zugeleitet worden. Ob sie sich von der Vorfasssung in wesentlichen Punkten unterscheidet, war aus „Gründen der Vertraulichkeit“ gestern nicht zu erfahren.

Im Vorentwurf vom März jedenfalls bezeichnen die Verfasser das „atomare Niedrigszenario“ wegen des niedrigeren Kapitaleinsatzes und des geringeren atomaren Risikos als „attraktiv“. Dennoch fürchten sie, daß diese Einschätzung in den osteuropäischen Ländern nicht geteilt werde, vor allem weil es „deutliche Unterschiede“ zwischen Weltbank und den Osteuropäern über den tatsächlichen Energiebedarf gebe. Die Weltbanker rechnen wegen der höchst unsicheren Aussicht auf östliches Wirtschaftswachstum mit einer erheblich niedrigeren Zunahme des Energiebedarfs als die Osteuropäer. Deren Regierungen bestanden wohl darauf, daß sie erst dann Atom-Kapazitäten stillegen könnten, wenn die alternativen Kapazitäten am Netz seien.

Demgegenüber verweisen die Weltbanker auf ein enormes Einsparpotential: Die sechs verbrauchen heute noch drei- bis fünfmal soviel Energie pro 1.000-Dollar- Produktionseinheit wie die OECD-Industrieländer im Durchschnitt. Schuld daran ist nicht nur staatssozialistische Verschwendungswirtschaft, sondern auch mit die völlig veraltete Technik und die bislang extrem niedrigen Preise, die niemanden zum Energiesparen reizen.

Ferner spricht aus osteuropäischer Regierungssicht gegen das Niedrigszenario, daß – vernachlässigt man das atomare Sicherheitsrisiko – der Weiterbetrieb der Schrottreaktoren am billigsten ist, sobald man alle Kosten einbezieht. Außer Rußland müßten die Länder zusätzlich Gas oder Öl importieren. Und zumindest Litauen würde, wenn Ignalina bis 1995 stillgelegt würde, seine Einnahmen aus dem Stromexport verlieren. Noch 1991 exportierte Litauen 40 Prozent der im Land erzeugten Energie, von der wiederum über 60 Prozent aus Atomkraft stammten.

Weil die Weltbanker ihr „atomares Niedrigszenario“ für nicht durchsetzbar halten, bieten sie den G-7 vorsorglich als Kompromiß ein „moderates Szenario“ an, das von allem etwas enthält: ein bißchen Nachrüstung, Stillegung der 25 gefährlichsten Reaktoren bis zum Jahr 2000 und bis dahin Ausbau von Kraftwerken für fossile Brennstoffe, das Ganze zu nicht abschließend berechneten Kosten. Bis zur Endfassung der Studie, versprachen die Autoren des Vorberichts, wollten sie sich bemühen, die Unstimmigkeiten in den Berechnungen zu klären.