Meinungslose Beliebigkeit

■ betr.: "Wackelkontakt mit der Wirklichkeit", taz vom 19.6.93

betr.: „Wackelkontakt mit der Wirklichkeit“, taz vom 19.6.93

[...] Mag Frau Rutschky auch meinen, daß einer, der im analytisch- intellektuellen Oberwasser segelt, nicht im Sumpf des sexuellen Mißbrauchs waten kann, so bleibt doch die Frage, was die taz mit dem Abdruck ihrer Besprechung erreichen will.

Weiß die Redaktion wirklich nicht, wie die Rechtsprechung hierzulande ist? Daß die Woody Müllers keineswegs einsam durch die Großstadtstraßen laufen, sondern konsequent zusammenhalten? Daß Täter, wenn ihnen wirklich etwas nachgewiesen werden kann, mit einer kurzen Strafe davonkommen, während dem Opfer die lebenslängliche Verletzung bleibt?

Es gibt in der taz auch andere Berichte, z.B. über das geplante Institut Anna O. in Berlin oder über die Forderung von Frauen nach offizieller Anerkennung der Verletzung ihrer Menschenwürde. Doch die meinungslose Beliebigkeit, mit der mal dieser Text, mal jener erscheint, ist in höchstem Maße ärgerlich.

Eine ähnliche Beliebigkeit ist beim Thema AusländerInnen- Haß in der taz nicht vorstellbar. Oder dürfte vielleicht ein Rechtsanwalt auf einer Zwei-Drittel- Seite einen Mann in Schutz nehmen, der in Verdacht geraten ist, ein Wohnhaus mit AusländerInnen in Brand gesetzt zu haben?

Eine offene Diskussion zum Umgang mit der Problematik sexuelle Gewalt lasse ich mir gefallen, und es müssen sich auch Feministinnen Kritik anhören können. Doch die unsolidarische Beliebigkeit der taz ist meine Sache nicht. Gisela Medzeg,

Ludwigshafen/Rhein

[...] Statt Fakten um so mehr Ideologie. Tenor: In gewissen Kreisen sei es neuerdings in Mode, sowieso schon vorhandene schmutzige Ehe-, Familien- oder Partnerschaftswäsche zusätzlich mit den besonders schwer lösbaren Schmutzflecken eines Vorwurfs zu verunreinigen, den früher kaum eine/r zu erheben wagte und der heute desto ungenierter in den öffentlichen Raum gestellt werde, wo die „breiten Bretter der Mißbrauchsliteratur“ sich ganz offensichtlich noch immer nicht verbiegen...

Was soll die geneigte taz-Leserin dem entnehmen? Daß das „aufgeklärte linksliberale Milieu“ seine Schmutzwäsche lieber nicht in der Öffentlichkeit waschen sollte? Daß die böse Verlagswelt, die das Manuskript ablehnt, sich nicht vor einen Karren spannen lassen will, der in die falsche Richtung losgehen könnte? Back to the silence maybe, to all those silent cries of untrustworthy children...? Daß der sexuelle Mißbrauch von Kindern überhaupt ein schreckliches Thema sei, von dem wir doch bitte bald nichts mehr hören wollen?

Die zitierte Meterware enthält Bücher, bei deren Lektüre einem nicht nach Polemisieren zumute ist. Oder möchte die Autorin gern mal ein Weilchen in die seelische Hölle eines inzestgeschädigten Menschen eintauchen? Ein paar solcher alptraumhafter Nächte, und sie wüßte, daß die „erfreuliche Sensibilisierung für das Leiden der Kinder“ mehr wert ist als ihr verantwortungsloses Geschwätz. Gisela Haehnel, Köln

[...] Diese sich anscheinend gerne als deutsche Camille Paglia spreizende „Postfeministin“ hat sich mit dem Bereich des Inzests ein dankbares Feld für ideologisch motivierte Spekuliererei geangelt, da die Hauptzeugen ja Kinder sind, deren Unmündigkeit ihren Aussagen wenig Gewicht gibt. Vorhang auf, so sieht es Rutschky, für die in Zeiten des „Staatsfeminismus“ (Zitat) ungleich bevorteilteren Mütter, die als letzte Waffe im Sorgerechtskampf ihre Kleinen flugs zu Inzestopfern deklarieren.

Untrennbar mit dem von ihr gesichteten Endsieg des bösen Feminismus verbindet sich für Rutschky das Comeback der sexuellen Prüderie. Klarsichtig, wie sie sich – allein auf weiter Flur, was Frauen betrifft – ausgibt, hat sie so revolutionär neue Thesen wie: alle Menschen sind in ihrer Sexualität selbstbestimmt (soll heißen: es gibt keine strukturelle sexuelle Gewalt), oder: Feministinnen sind alle nur prüde/frigide/verbittert (ebenfalls: Abwehr des Postulats „Das Persönliche ist das Politische“).

Was dieser Frau ihre Hetztiraden außer der Sympathie anderer (männlicher) Hellseher der Nation einbringt – abgesehen natürlich von Publicity –, das frage ich mich wirklich. J. Nitschke, Ostberlin