: Migranten wohnen nicht
Von einem Lokführer und einem Asylbewerberheim, von nomadischen und seßhaften Räumen ■ Von Heidi Helmhold
Nomaden sind keine Migranten, und Migranten sind keine Nomaden. Beide aber leben im Wechsel von Unterwegssein und kurzfristigem Niederlassen, wenn auch die Gründe und Motive unterschiedlich sind. Ihr Unterwegssein ist existentiell und bedingt einen hohen Anteil an mobilem Besitztum. Statt der Einbauküchen, Stahlrohrregale oder Schrankwände sind es tragbare Kleinmöbel oder oft nur Decken, Bündel, Tücher (und keine hard-boxes oder Alukoffer). Bei traditionell nomadisierenden Ethnien sind diese weichen, mobilen Besitztümer konstitutiver Bestandteil des Lebensalltags. Die zentralasiatischen Mongolen leben beispielsweise teilweise bis heute in Filzhäusern, den sogenannten Jurten. Die Wände einer solchen Jurte sind nicht aus Stein oder Beton, sondern aus gefilzter Wolle, der Boden ist mit mehreren Filzschichten bedeckt, und selbst die Tür ist manchmal aus Filz.
Anny Milovanoff sagt von den LarbaÛ-Nomaden in der algerischen Sahara, daß diese sich mit dem Raum, den sie durchqueren, nicht verbinden, ihn sich nicht aneignen. Sie schaffen sich eine Umgebung aus Wolle und Ziegenhaar, die an dem Ort, den sie kurzfristig bewohnen, keine Spuren hinterlassen. Ein nomadisches Wohnen ist nicht nur anders als das Wohnen der Seßhaften, es ist mit unserem Begriff des „Wohnens“ eigentlich gar nicht zu bezeichnen. Die Heimstätte der Nomaden, so schreiben Deleuze/Guattari, ist nicht mit einem Territorium verbunden, sondern vielmehr mit einer Wegstrecke. Wohnen ist die Gewohnheit an einen Ort, an dem man manifest wird, Nomadisieren ist die Gewohnheit an das Umherziehen, es ist das Wohnen im Unterwegssein. Vielleicht ist das Nomadisieren die uneingestandene Sehnsucht des Seßhaften – wenn jedoch nomadische Anteile auf eine seßhafte Mehrheitsbevölkerung treffen, sind es nicht zuletzt die „textilen Weichanteile“ der migrierenden Minderheiten, die irritieren und als das Andere bekämpft werden.
„Hausen“ und „Wohnen“
Es ergab sich die Gelegenheit, im Führerhaus eines Kohletransportzuges im Raum Essen-Duisburg mitzufahren. Der Zug passierte industrielle Brachflächen, Kleingartensiedlungen und Villenviertel. Auf eine Häuseransammlung neben den Schienen wies der Lokführer ausdrücklich hin: Es waren Asylbewerberheime, von Roma bewohnt, eine Art des Wohnens, die in seinen Augen gar kein Wohnen, sondern ein „Hausen“ war. Eine Wohnform, die weit unterhalb dessen lag, was er mit „Wohnen“ bezeichnen würde.
Es war zufällig dieser Lokführer, und es war zufällig dieses von Roma bewohnte Asylbewerberheim – keines von beiden läßt sich konkreter benennen; sie repräsentieren letztlich zwei Weisen von Eingeschlossenheit: Ein Mann, der seit Jahren seinen Job im Metallgehäuse einer Güterzuglok verbrachte, und eine von vielen Roma-Gemeinschaften – ghettoisiert, auf ihr weiteres Schicksal wartend. Der eine hat sich im Bleiben eingerichtet, die anderen im Migrieren. In der gelebten (und erzählten) Geschichte der Roma lagen immer wieder lange Wanderungsperioden zwischen Phasen der Seßhaftigkeit, was teilweise in den „fahrenden Berufen“, teilweise aber auch in Verfolgungen und Verstoßungen von seiten der Mehrheitsbevölkerungen begründet lag. Sie haben einen nomadischen Anteil in ihrer Kultur, wurden und werden aber auch immer wieder in den Asylbewerberstatus gedrängt. Das „Hausen“, von dem der Lokführer sprach – (etymologisch aus dem mhd. husen = wohnen, sich aufhalten; seit dem 14. Jahrhundert auch: übel wirtschaften, sich wüst aufführen) – wie sah es aus?
Fenster waren geöffnet. Durch die Innenräume zog der Wind, Gardinen wehten nach außen. Vor allen Fenstern hing Wäsche; sie lag auch auf den Dächern, die aus den Luken heraus auf die Dachziegel zum Trocknen gelegt worden war. Vor den Häusern standen rostige Stuhlgestelle mit Teppichresten als Polsterung. Menschen waren an den Fenstern, vor den Türen. Alles Zeichen der Durchlässigkeit zwischen Innen- und Außenraum. Zeichen des „Fremden“, des „Anderen“, Zeichen der sogenannten Asylbewerberheime, Häuser mit einer darüber hinaus oft auch verwohnten äußeren Form. Das also wird hierzulande als Hausen bezeichnet und der Begriff meint damit immer auch einen Anteil an Kulturlosigkeit, der nicht der eigenen Kultur entstammt – und wenn, dann eine mißlungene Randform darstellt. Tatsächlich zeigten die Kleingarten- und Villenviertel, die der Zug auch passierte, diese Entgrenzungserscheinungen von Innen und Außen nicht, sondern eine schon architektonisch wohlartikulierte Form. Die Fenster waren geschlossen, die textilen Wohnutensilien innen im Wohngehäuse, selbst die Polster der Hollywoodschaukel auf der Veranda waren abgenommen und verstaut; es könnte regnen. Die Menschen dort „wohnen“; das heißt die Grenze zwischen Innen- und Außenraum ist klar gezogen, und sie wird eingehalten.
Exotik und Urlaubsnomadismus
Eine leider zur Vertrautheit gewordene Schere: In der Alltagskultur, in den Eßgewohnheiten etc. sind die jeweilig anderen Kulturmuster längst ineinandergearbeitet (neben den Klassikern wie Pizza, Gyros und Pommes wird die kulinarische Lust am wahrhaft Exotischen wie vietnamesischen, nordafrikanischen oder kirgisischen Speisen mehr und mehr entdeckt). Auf der anderen Seite finden, gerade durch den Zuwachs an („exotischen“) Migranten, enorme Rückbesinnungsprozesse auf die eigene Kultur statt, zunehmend im Bereich dessen, was sich anschickt, politisch als Europa zusammenzuwachsen. Im Eßverhalten, Modebewußtsein, Musikinteresse oder in der Urlaubsform wird eine Kultur erzeugt, die Wolfgang Welsch im Sinne einer Transkulturalität beschreibt: „Es gibt nichts schlechthin Fremdes mehr. Alles ist in innerer und äußerer Reichweite. [...] Es gibt nicht nur kein strikt Fremdes, sondern auch kein strikt Eigenes mehr. [...] Die Trennschärfe zwischen Eigenkultur und Fremdkultur ist dahin.“ Die Kulturen durchdringen einander und stellen die Existenz einer authentisch beschreibbaren Fremd- oder Eigenkultur mehr und mehr in Frage. Gleichzeitig jedoch wird die Schizophrenie von Kulturaneignung und Kulturintoleranz immer ausgeprägter. Türkische Speisen sind Allgemeingut, der Urlaub in den nicht krisengeschüttelten Teilen dieses Landes ebenfalls; die Intoleranz den – in diesem Fall – Türken gegenüber wird jedoch nicht geringer und äußert sich inzwischen offen rassistisch.
Um auf das Beispiel der Roma zurückzukommen: Im beschriebenen Bild entlang der Güterzugstrecke hieße das, das „Hausen“ als eine Lebensform des Umherziehens, des Übergangs, des Transitorischen zu lesen, als eine nomadisierende Lebensform innerhalb der Seßhaftigkeit. Im Kulturmuster des Reisens ist diese Lebens-
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form, sporadischer und aus anderen Beweggründen, vertraut. Die textilen Äußerungsformen des Reisens sind dabei denen eines Asylbewerberheimes nicht unähnlich: Am Strand sind es die nassen Höschen und Tücher, die auf oder neben die Strandkörbe zum Trocknen gehängt werden. Oder die nassen und verschwitzten Socken und Unterhemden auf den Holzveranden einer Berghütte oder die durchnäßten Bergschuhe – ein Provisorium, das jedem das Gefühl von „Urlaub“ vermittelt. Man leistet sich die drei- bis vierwöchige geliehene Existenz des Unterwegssein, lebt in touristischen Heimen, Hotels und Pensionen, verläßt kurzfristig die Kultur des Verschlossenen und Verpackten, und lebt damit seine seine Affinität zu Transitorik und Nomadismus aus. Im Urlaub praktiziert und liebt man die Umstülpungen von Außen und Innen; da ist es wunderbar, zu hausen statt zu wohnen. Im heimischen Alltag erscheint es dann wieder als das „Andere der Anderen“. Dieses Beispiel soll die Tragik und das Elend von Asylbewerbern nicht im Sinne einer Urlaubsstimmung ästhetisieren, sondern lediglich dazu dienen, den schizophrenen Anteil dessen anzudeuten, was sich als Urlaubsnomadismus gefällt.
Das Objekt und der Raum
Die nomadische Existenz ist an andere Besitztümer geknüpft als das Leben in Seßhaftigkeit. Letzteres fundamentiert seine Häuser und richtet alle primären wie sekundären Bedürfnisse auf einen Ort aus und mißt den immobilen Wohnobjekten sehr hohe Bedeutung bei.
Auf der „documenta IX 1992“ in Kassel war es der russische Künstler Ilja Kabakow, der mit seiner Installation eines wohnungsartig möblierten Latrinenhäuschens auf diese westliche Objektbeziehung kritisch anspielte. Das Verhältnis von Raum und Objekt hat sich in seinen Augen zugunsten des Objekts verschoben. Es existieren fetischhafte Überbetonungen von „Mechanismen, Gegenständen, Kleidung und Mobiliar“, während die Räume selbst, ihr atmosphärischer Anteil, „nichtssagend, langweilig und uniform“ geworden sind. In der Installation des Latrinenhäuschens gab es für den Betrachter nichts anzuschauen, es entstand eher das peinliche Gefühl, eine häusliche Intimität fremder Menschen in ihrer kurzen Abwesenheit zu stören. Es herrschte eine merkwürdige Mischung aus Ärmlichkeit und Würde. Hier ist etwas untergebracht, so Kabakow, das mit einer Toilette unvereinbar erscheint: „Der Besucher findet eine gewöhnliche sowjetische Zwei-Zimmer-Wohnung ... Das Leben verläuft in gewohnten Bahnen ... Dieses ganz normale Leben in der Toilette ...“ Kabakows Installation ist keine Idealisierung von Notunterkünften, sondern der Verweis auf eine andere Objektbeziehung, wie er sie im Osten, in Rußland gelebt sieht: Das Mobiliar, die einzelnen Gegenstände spielen in den Wohnräumen keine entscheidende Rolle, nicht zuletzt deswegen, weil sie nicht zu bekommen sind. Sie sind „alt, abgenutzt und schmutzig [...] und erinnern alle zusammen an einen Haufen Plunder von ungefähr gleicher Farbe“. Die einzelnen Dinge ordnen sich einer Gesamtatmosphäre unter, in der sich die Menschen nicht an Designermarken orientieren. In unserer (westlichen) Kultur unterliegt inzwischen alles den Koordinaten von (architektonischem) Raum und den darin befindlichen festen Dingen.
Kabakow zeigt mit seiner Kasseler Installation keine Unterkunft von Roma und kein Nomadenzelt, aber er zeigt einen Raum, der einen hohen nomadischen Gehalt hat: unscharf, ungefähr, provisorisch, ambulant. Deleuze/Guattari schreiben dem nomadischen Raum eine andere Topologie als dem Raum der Seßhaften zu: Eine „Topologie, die nicht auf Punkten oder Objekten beruht, sondern auf [...] einem Zusammenwirken von Verhältnissen [...] Es ist aber eher ein taktiler oder vielmehr ,haptischer‘ und klanglicher als ein visueller Raum“. Die provisorische Lebensform der oben beschriebenen Roma zeigt dieses Dilemma: Schon mit dem in der äußeren Erscheinung zu hohen Anteil nach außen gekehrter „Weichanteile“ wie Wäsche, Gardinen, Teppichen etc. fallen sie durch ein Raster, werden ausgegrenzt, und es entsteht ein konfliktgeladenes Umfeld.
Daß man Menschen ghettoisiert, sie in heruntergekommene Heime steckt und ihnen – wenn überhaupt – erst in assimilierter Form Aufmerksamkeit und Anerkennung schenkt, ist wohl eine der fragwürdigsten Spielregeln für eine Vielvölkerrepublik, um mit Claus Leggewie zu sprechen. Doch nicht nur die Konfrontation nationaler Eigenheiten und Identitäten mit dem „Anderen“ scheint das Problem zu sein, sondern auch das Aufeinanderprallen zweier Existenzweisen: Nomadismus und Seßhaftigkeit. In der Seßhaftigkeit, so der Ethnologe P.A. Andrews, ist jeder „durch die Notwendigkeit, sein Haus, seine Güter, sein Kundennetz und seine Bank zu schützen, in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt“. Demgegenüber verfügt jeder, der, wie beispielsweise die Roma und andere Migranten, gegenüber Besitztümern eine andere Haltung einnimmt, über einen Rest an nomadischer Freiheit. Sie erlaubt es ihm, drohenden Gefahren auszuweichen, und sie erscheint dem Seßhaften, so Andrews, immer auch als die „Inkarnation von Unschuld und Freiheit, die er selbst schon nicht mehr besitzt“.
Für eine städtische Mehrheitsbevölkerung leben die Migranten im „Außen“, als Außenseiter. Dieses Außen aber ist der nomadische Raum, der sich in den staatlichen Administrationsapparat nur schwer oder gar nicht integrieren läßt. Ein Durchgangsort, an dem die flatternden Textilien auch Ausdruck von Instabilität, Neubildung, Weiterziehen und Beweglichkeit ist. Und diesem Ort jettet man ein- bis möglichst mehrmals jährlich als Urlaubstäter hinterher – aber man darf vermuten: Auch der Gelsenkirchener Lokführer träumt vom Hausen anstelle des Wohnens.
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