■ Der Provinzialismus des deutschen Kulturbetriebs
: Literarisches Ghetto

In Deutschland meinen viele, ein Schriftsteller könne und solle nur in seiner Muttersprache schreiben. Puristischer Unsinn! Die Sprache der Mütter ist immer eine andere; die Entwöhnung kommt schon in der Schule. Lernte Beckett Französisch von seiner Mutter? Nabokov schrieb seinen sprachlich genialen Roman „Lolita“ in Englisch, nachdem er im Alter von 41 Jahren in die Vereinigten Staaten emigriert war. Ein anderer Russe, Joseph Brodsky, hat kurz nach seiner Übersiedlung in die USA angefangen, in Englisch zu reimen; schwerster Sündenfall für einen Lyriker. Der Ex-Jugoslawe Charles Simic, der bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr kein Wort Englisch sprach, ist heute Pulitzer-Preisträger und gilt als einer der besten amerikanischen Dichter. Einer der wichtigsten englischen Romane unseres Jahrhunderts, „Lord Jim“, wurde von dem polnischen Seemann Joseph Conrad geschrieben. Der vielsprachig aufgewachsene Nobelpreisträger Elias Canetti, Jude bulgarischer Abstammung mit türkischem Paß, beschreibt in seinen Kindheitsmemoiren mit dem bezeichnenden Titel „Die gerettete Zunge“, wie er mit acht Jahren anfing, Deutsch zu lernen – die Sprache, in der er zeit seines Lebens schreiben sollte. Der Rumäne Panait Istrati hat nach einem langen Vagabundenleben seine Romane auf Anraten seines Entdeckers Romain Rolland in Französisch verfaßt. All diese Autoren haben ihre literarische Sprache nicht von ihrer Mutter gelernt.

Sicher gibt es auch Autoren, die sich trotz langer Jahre im Exil an ihre Muttersprache geklammert haben: Feuchtwanger, Gombrowicz, Singer. Der vielsprachige Paul Celan, der als Jude in rumänisch-ukrainisch-deutscher Kultur aufgewachsen war, glaubte nicht an eine Zweisprachigkeit in der Lyrik und dichtete in seiner „babylonischen Gefangenschaft“ in Paris keine einzige Zeile in Französisch. Gertrude Stein, die in Paris einen Salon führte und mit bekannten Künstlern (Picasso, Matisse) verkehrte, meinte, daß man nur ein Metier und nur eine Sprache haben könne („Schreiben ist mein Metier, Englisch meine Sprache“). Es ist eine Sache der persönlichen Vorlieben und Lebensumstände, ob ein Autor in seiner Muttersprache oder in einer später erlernten schreibt.

Die Behauptung, Literatur sei nur in der Muttersprache möglich, büßt im Zeitalter der Mobilität und Migrationsbewegungen immer mehr an Gültigkeit ein. Einwanderer aus Nordafrika, Indien, Pakistan, aus der Karibik und verschiedenen afrikanischen Ländern schreiben anstatt in ihrer Muttersprache in der Sprache ihrer Wahlheimat. Sie werden zunehmend als vollwertige AutorInnen akzeptiert und nicht selten mit Nationalpreisen geehrt. Auf meinem Exemplar von „Adah's Story“ der Nigerianerin Buchi Emecheta steht: „Best of Young British Novelists 1983“. Der Algerier Tahar Ben Jelloun bekam 1988 den angesehensten Literaturpreis in Frankreich, den „Prix Goncourt“, zugesprochen. In Großbritannien erhielt 1991 ein Nigerianer, Ben Okri, und 1992 der aus Sri Lanka stammende Michael Ondaatje den Booker Preis; 1981 war es Salman Rushdie. Als 1991 erstmalig die Türkin Emine Sevgi Özdamar den Klagenfurter Ingeborg- Bachmann-Preis erhielt, war das eine Überraschung für alle und fast ein Eklat. Die Kompetenz der Jury wurde angezweifelt.

Während man sich in den USA mit William Saroyan und Derek Walcott, in Großbritannien mit Jean Rhys und Salman Rushdie, in Frankreich mit Samuel Beckett und Tahar Ben Jelloun schmückt, kennt man in Deutschland nur das Paradebeispiel des Adalbert von Chamisso. 1781 als Sohn einer Adelsfamilie in Frankreich geboren und dort aufgewachsen, floh der junge Chamisso mit seinen Eltern aus dem revolutionären Frankreich nach Berlin. Obwohl er sein Leben lang Deutsch mit Akzent sprach, zählt Chamisso zu den bekanntesten deutschen Dichtern. Er gehört zur Schullektüre.

Die Liste der in Deutsch schreibenden ausländischen Autoren, die eine breite Akzeptanz fanden, fängt mit Chamisso an, und mit Chamisso hört sie auf. In den vergangenen fünfzehn Jahren haben viele eingewanderte Autoren ihre Bücher in Deutsch verfaßt. Man läßt sie gewähren und erfindet für sie Kategorien wie Gastarbeiter-, Emigranten-, Betroffenheits- oder Bekenntnisliteratur; die ganz Vornehmen sagen etwas umständlich „Literatur von deutschsprachigen Autoren nichtdeutscher Muttersprache“ dazu. Getrennte Anthologien, getrennte Verlage, getrennte Preise und getrennte Zeitschriften sind die Folge. Die Kritik nimmt diese Autoren nicht wahr. Die Leserzahl ist gering.

Autoren ausländischer Abstammung dürfen sich zu ihrer Befindlichkeit äußern und müssen darauf achten, daß sie bei der Themenauswahl die an sie gestellten Erwartungen erfüllen. Betroffenheitsliteratur ist eine ihnen zugestandene Domäne – und Folkloristisches, das heißt das, was der Leser (oder der Verleger) für die andere Kultur hält. Der Autor muß also unentwegt seine Andersartigkeit, seine Fremdheit, sein Nicht-Dazugehören betonen.

Immer mehr wird von Autoren ausländischer Abstammung erwartet, die Versäumnisse der Politik aufzufangen. Das Werk steht dabei an zweiter Stelle. Daß hierzulande kaum exponierte Werke wie in Frankreich und England entstehen, liegt nicht daran, daß es an kreativem Potential fehlt; es gibt keinen fruchtbaren Boden dafür. Auch in der Literatur zeigt sich: Die Deutschen haben den Umgang mit Fremden nicht gelernt. Die gesellschaftlichen Verhältnisse spiegeln sich im Kulturbetrieb. So glaubt man, ernstzunehmende Literatur in deutscher Sprache könne nur von denen gemacht werden, die in diese Sprache hineingeboren wurden – ein Zeugnis des Wertkonservatismus und Provinzialismus. Die ungeschriebenen Gesetze des Literaturbetriebs unterscheiden sich nicht so sehr vom Reichsstaatsangehörigkeitsgesetz. In Geistesangelegenheiten ist Deutschland eine geschlossene Gesellschaft geblieben, eine Gesellschaft mit einem literarischen Ghetto. Kemal Kurt