Waffenstillstand für van Gogh & Co

Trotz gerichtlicher Auseinandersetzungen: Essen zeigt französische Impressionisten aus Rußland  ■ Von Stefan Koldehoff

Für seine Zeitgenossen war das, was Sergej Schtschukin im Palais seiner Familie an der Moskauer Smaneski-Gasse 8 zusammengetragen hatte, mehr als zweifelhafte Kunst – aber genau das wollte sie auch sein. Schließlich hatte im Moskau des ausgehenden 19. Jahrhunderts Kunst vor allem praktische Aufgaben zu erfüllen: In den bürgerlichen Wohnpalais hingen dekorative Genreszenen und konventionelle Landschaften russischer Maler an den Wänden. Sie dokumentierten gegenüber den Geschäftspartnern wirtschaftlichen Wohlstand und gesellschaftliche Konformität – so war es lange Zeit auch im Haus der Familie von Sergej Schtschukin gewesen.

Ende der neunziger Jahre aber begann der 1854 geborene Sproß einer traditionsreichen und kulturbewußten Tuchhändlerdynastie, dieses funktionale Kunstkonzept in Frage zu stellen und durch sein eigenes progressives zu ersetzen. Ihm erschien nach zahlreichen geschäftlichen Besuchen im westlichen Ausland die russische Kunst langweilig, überholt und anachronistisch. Schtschukin reizte, was er vor allem in Paris kennen- und schätzengelernt hatte. So kaufte der Bürgersohn ab 1895 zunächst ungezielt, später aber mit sicherem Gefühl für Avantgarde und Qualität die Freiluftmalerei der Impressionisten und Postimpressionisten, von Monet und Sisley bis hin zu Picasso und Matisse. Sein befreundeter Kollege, der Textilindustrielle Iwan Morosow, tat es ihm gleich.

Auf diese Weise umfaßten Morosows und Schtschukins Moskauer Privatsammlungen schließlich ganze Werkkonvolute von Monet und Renoir, Cézanne und van Gogh, Rousseau und Gauguin. Alles zu zeigen, traute sich dennoch selbst der progressivere Schtschukin nicht: Einen 1876 entstandenen „Frauenakt“ von Renoir und ein Bild aus der Degas-Serie „Nach dem Bad“, die 1886 schon bei der letzten Ausstellung der Impressionisten im nicht eben prüden Paris einen Skandal ausgelöst hatte, hängte der Russe vorsichtshalber in seine Privaträume.

Wer die Werke der ehemaligen Sammlungen Schtschukin und Morosow heute ansieht, kann die Aufregung, mit der sie vor rund 90 Jahren in Moskau aufgenommen wurden, kaum mehr nachvollziehen. Eine Auswahl von 120 Meisterwerken aus beiden Sammlungen – darunter 13 von Cézanne, zwölf von Picasso, je zehn von Gauguin und Matisse und neun von Monet – zeigt das Museum Folkwang in Essen als einzige westeuropäische Ausstellungsstation seit dieser Woche. Die meisten dieser Bilder sind seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr im Westen zu sehen gewesen. Unmittelbar nach der Oktoberrevolution nämlich wurden beide Sammler enteignet. Lenin selbst unterschrieb am 5.November 1918 das „Dekret Nr. 81 über die Nationalisierung“ der Sammlung Schtschukin, eineinhalb Monate später widerfuhr Morosow dasselbe Schicksal.

Neue kunsthistorische Erkenntnisse kann die jetzt in Essen gezeigte Zusammenstellung der erstmals wieder in Teilen vereinten Sammlungen Schtschukin und Morosow auf keinen Fall bringen. Längst gelten die ausgestellten Werke als Inkunabeln der klassischen Moderne, stehen ihre kunsthistorische Bedeutung und malerische Qualität außerhalb jeder Diskussion. Seine Rechtfertigung bezieht das milliardenschwere Ausstellungsprojekt bestenfalls aus der Tatsache, daß in Essen zum ersten Mal überhaupt die Sammlertätigkeit von Sergej Schtschukin und Iwan Morosow unfassend gewürdigt und, vor allem in den Beiträgen des umfangreichen und sorgfältigen Katalogbuches, auch in ihrem historischen, politischen und gesellschaftlichen Kontext dokumentiert wird. „Noch bis vor wenigen Monaten kannte kaum jemand in Rußland die Namen Morosow und Schtschukin, keine Museumstafel, kein Katalogtext wies auf die Geschichte der Bilder hin, die nach 1945 in den Museen von St. Petersburg und Moskau in gesonderten Räumen als Musterbeispiele für ,dekadente, bourgeoise Westkunst‘ ausgestellt und diffamiert wurden“, erinnert sich André- Marc Deloque-Fourcaud, Sohn der Schtschukin-Tochter Irina. Seine Mutter war es, die kurz vor Ausstellungsbeginn das Projekt noch einmal ungewollt in Frage stellte. In diesem Frühjahr nämlich hatte die streitbare Russin vor dem Pariser Oberlandesgericht ihre Ansprüche auf zahlreiche im Centre Pompidou anläßlich der großen Retrospektive ausgestellte Matisse-Bilder aus der Sammlung ihres Vaters geltend gemacht, die Beschlagnahme von 21 Werken und eine Entschädigung in Höhe von 25 Millionen Dollar gefordert. Die Geldforderung zog die Erbin später wieder zurück. Die russische Regierung reagierte unmißverständlich: Gebe das Gericht den Erben recht, werde die Russische Republik „mit allen rechtlichen Mitteln ihre unabdingbaren und von der ganzen Welt anerkannten Rechte auf den kulturellen Nachlaß, eingeschlossen die erwähnten Werke von Henri Matisse, verteidigen“.

Weil aber wiederum den Erben daran gelegen war, daß die erste Ausstellung zu Ehren ihrer Vorfahren auch tatsächlich stattfinden konnte, zogen sie daraufhin ihre Forderungen an den russischen Staat zunächst zurück. André- Marc Delocque-Fourcaud nennt die Zusicherung einen „Waffenstillstand bis zum Herbst“. Seine Familie erhebe weiterhin moralischen Anspruch auf die Bilder und verlange dessen öffentliche Anerkennung: „Die Werke gehören natürlich nach Rußland, sie sind ein Teil des russischen Volkes. Wir wollen aber erreichen, daß sie wieder als homogene Sammlung im Trubezkoj-Palais unseres Vaters gezeigt werden. Meine Mutter würde nie auch nur den Verkauf eines einzigen Bildes ins Ausland wollen, wie es die sowjetische Regierung 1933 etwa mit van Goghs ,Nachtcafé‘ tat, das heimlich an den amerikanischen Sammler Stephen Clark verkauft wurde.“

Am 16. Juni erklärte sich zudem das Pariser Oberlandesgericht für nicht zuständig: Rußland sei ein souveräner und immuner Staat. Ein Urteil muß demnach in Rußland selbst gefällt werden.

Dort hängen inzwischen wenigstens kleine Schilder mit der Aufschrift „Ehemalige Sammlung Schtschukin“ und „Ehemalige Sammlung Morosow“ an den entsprechenden Gemälden. Gedenktafeln erinnern an deren Wohnhäusern an die beiden großen Moskauer Sammler. „Damit sind zwei der zehn Forderungen meiner Mutter innerhalb von nur vier Monaten schon erfüllt worden – ein beachtliches Resultat“, faßt André-Marc Delocque-Fourcaud den augenblicklichen Stand der Dinge zusammen. „Ich bin zuversichtlich, daß bald auch das Trubezkoj-Palais für die Sammlung wieder geöffnet wird und wir dort eine Stiftung für junge russische Maler gründen können.“

Morosow und Schtschukin – die russischen Sammler. Museum Folkwang Essen, 26. Juni bis 31. Oktober 1993. Di., Mi., Do., Sa., So. 10 – 20 Uhr, Fr. 10 – 24 Uhr

Katalog: 400 Seiten mit 120 Farb- und zahlreichen S/W-Abbildungen. DuMont Verlag, Köln. Im Museum 48 DM.