Clinton und das Vietnam-Trauma

Bis Mitte Juli muß die US-Regierung entscheiden, ob sie die Beziehungen zu Hanoi normalisieren will / Die Geschäftswelt ist sehr dafür  ■ Aus Washington Andrea Böhm

Es kommt auf den Standpunkt an: In den Augen mancher gibt es kaum einen geeigneteren Politiker als Bill Clinton, um zwanzig Jahre nach dem Ende des Vietnamkriegs eine neue Ära im Verhältnis zu Hanoi einzuleiten. Andere wiederum halten ihn für den denkbar ungeeignetsten. Bis Mitte Juli muß der US-Präsident entscheiden, ob und wie weit er die Beziehungen zu Vietnam normalisieren will. Egal, welchen Kurs er einschlägt, seine Opposition gegen den Vietnamkrieg wird unweigerlich wieder Thema werden.

Nicht erst seit dem Amtsantritt des Demokraten drängen US- Wirtschaftsunternehmen auf eine Aufhebung des Handelsembargos, das seit 18 Jahren in Kraft ist. Mit wachsender Nervosität stellt man in den Management-Etagen von Coca-Cola, Caterpillar oder Chrysler fest, daß vor allem die Konkurrenz aus Frankreich, Japan und Taiwan den neuen Investitions- und Absatzmarkt belegt. Nach dem Zusammenbruch seines ehemaligen Haupthandelspartners Sowjetunion hat sich Vietnam in den letzten Jahren zu einem verheißungsvollen Ziel ausländischer Investoren entwickelt. Das Land verzeichnet einen Handelsbilanzüberschuß, ist nach Thailand und den USA drittgrößter Reisexporteur der Welt und hat nach Angaben des Wall Street Journal Devisenreserven in Höhe von 600 Millionen Dollar angesammelt. Mit umwölkter Stirn hat man im US- Handelsministerium zur Kenntnis nehmen müssen, daß die vietnamesische Regierung Anfang diesen Jahres Japan eine „Wunschliste“ mit 348 Wirtschaftsprojekten im Wert von 6,4 Milliarden Dollar vorgelegt hat.

Den Startschuß muß der Internationale Währungsfonds (IWF) geben. Auf Initiative Frankreichs haben mehrere Industrieländer angeboten, Vietnam bei der Begleichung alter IWF-Schulden in Höhe von 140 Millionen Dollar behilflich zu sein, wodurch sich Hanoi wiederum mit dem Segen des IWF für neue Kredite internationaler Banken qualifizieren würde.

Doch eine endgültige Entscheidung des IWF wurde im April auf Drängen der USA auf Eis gelegt. In den USA war wieder einmal ein Dokument aufgetaucht, wonach die Regierung Vietnams angeblich mehrere hundert amerikanische Soldaten in Haft behalten habe – entgegen ihrer Beteuerung, sie habe im Rahmen des Waffenstillstandsabkommens von 1973 alle Kriegsgefangenen freigelassen.

Die Authentizität des Papiers ist zwar mehr als zweifelhaft. Doch die Ungewißheit über das Schicksal von rund 2.000 US-Soldaten aus dem Vietnamkrieg zu beseitigen ist in den USA zu einer Art Obsession geworden. So sehr man das unrühmliche Ende des Vietnamkriegs, bei dem 58.000 Amerikaner ums Leben kamen, zu verdrängen versuchte, so unerträglich ist vielen heute noch der Gedanke, einige ihrer „Boys“ zurückgelassen zu haben – möglicherweise lebend. Daß seit Kriegsende auch über 300.000 Vietnamesen offiziell als vermißt gelten und wohl den 1,5 Millionen Kriegstoten zugerechnet werden müssen, spielt in der US-Debatte keine Rolle. Statt dessen können sich Veteranen und Organisationen von Familienangehörigen wie die „National League of Families of American Prisoners and Missing in Southeast Asia“ oder die „American Legion“ mit drei Millionen Mitgliedern bei ihren Kampagnen immer noch ungeteilter Medienaufmerksamkeit erfreuen. Im Kongreß sind einige Senatoren auf ihrer Seite, die selbst im Vietnamkrieg waren. In den Augen vieler Vietnamkriegsveteranen ist Clinton ein „Drückeberger“, der nie eine Uniform getragen hat und sich nun auch noch anschickt, mit dem ehemaligen Feind Geschäfte zu machen.

Daß sich am Ende die Lobby der Wirtschaftsunternehmen durchsetzen wird, bezweifelt in Washington kaum jemand. Doch Clinton ist in seinem Präsidentenamt auf Imagepflege genauso angewiesen wie auf Politik. Mit dem Vorwurf des „Drückebergertums“ kann man sein ohnehin ramponiertes Image leicht ankratzen, zumal er sich selbst nie getraut hat, seine Opposition gegen den Vietnamkrieg offensiv zu vertreten. Ein von ihm einberufener Ausschuß mit Vertretern aus mehreren Ministerien hat der Regierung zwar unlängst empfohlen, den Weg Vietnams zum IWF nicht länger zu blockieren. Doch in der Frage des Embargos konnte sich der Ausschuß auf keine Empfehlung einigen. Denkbar ist nun ein Kompromiß, wonach Clinton US-Unternehmen gestatten würde, sich um IWF-finanzierte Projekte zu bewerben.

Voraussichtlich Mitte Juli kommen die Direktoren des IWF zu ihrem nächsten Treffen zusammen und wollen bis dahin eine Entscheidung Clintons. Mitte September läuft das Handelsembargo aus, das bislang von seinen Vorgängern immer wieder verlängert worden war. Vorausgesetzt, es tauchen nicht wieder neue „Beweise“ über die Existenz von US-Kriegsgefangenen in Vietnam auf, dann wird Clinton den Schritt wohl wagen und wieder Handelsbeziehungen aufnehmen. So neu wäre diese Ära der Beziehungen nicht. Die Coca- Cola Company kann da weitermachen, wo sie 1975 aufhören mußte: in Saigon, das heute Ho-Chi-Minh- Stadt heißt.