„Ganz eklatante Widersprüche“

Türkische Familie in Hattingen wehrt sich gegen die Beschuldigung, selbst Feuer in ihrer Wohnung gelegt zu haben / Verteidiger: Verhalten der Staatsanwaltschaft „skandalös“  ■ Aus Hattingen Walter Jakobs

Die Nachricht der Essener Staatsanwaltschaft verbreitete sich in Windeseile in der 61.000 Einwohner zählenden Kleinstadt. 11 Tage nach dem Brand in dem von der türkischen Familie Ünver bewohnten Haus Nr.20 auf der Hattinger Unionstraße teilten die staatlichen Ermittler am 16.6.1993 mit, daß es sich bei dem Feuer „nicht um einen Brandanschlag eines Fremdtäters gehandelt hat“. Vielmehr sei der Brand von „einer der im Hause aufhältlichen Personen gelegt worden“ – gemeint war Frau Ünver selbst.

Angesichts dieser Beschuldigung „waren wir wie betäubt“, erinnert sich Familienvater Yasar Ünver. In der Brandnacht vom 5. Juni befand er sich auf Nachtschicht bei Thyssen. Daß seine Frau, die mit ihren fünf Kindern im Alter zwischen 2 und 14 Jahren von Nachbarn hilferufend auf der Straße gefunden worden war, den Brand selbst gelegt haben könnte, hält Yasar Ünver für ausgeschlossen. Nach den Beschuldigungen der Staatsanwaltschaft war es mit der Anteilnahme für die Familie Ünver in Hattingen abrupt vorbei. Ein Stadt fällte ihr Urteil, ohne Prozeß, ohne Verteidigung. Ünver wörtlich: „Wir waren wie geschockt. Außer vier Kollegen und den Verwandten stand niemand mehr zu uns. Auch die Landsleute schauten weg. Wenn ich durch die Stadt ging, drehten sie den Kopf zur anderen Seite.“ Beschimpfungen und Belästigungen folgten, so daß sich die Familie zunächst nicht mehr auf die Straße traute und die Kinder aus Angst vor Diffamierungen die Schule mieden.

Seit ein paar Tagen faßt Yasar Ünver wieder etwas Mut. Verantwortlich dafür ist der Bochumer Rechtsanwalt Wolfgang Heiermann. In akribischer Kleinarbeit hat der Anwalt die Akten durchforstet und dabei festgestellt, daß die von der Staatsanwaltschaft veröffentlichten Fakten „in wesentlichen Punkten den Befunden, die von einem Brandsachverständigen und der Kriminalpolizei am Tatort festgestellt wurden, widersprechen“. Gegen einen Fremdtäter spricht nach Einschätzung der Ermittler, daß sich ein Teil der acht Brandherde in zugeschlossenen Räumen befand. „Die passenden Schlüssel“, so heißt es in der staatsanwaltschaftlichen Erklärung, „fanden sich an ihren ordnungsgemäßen Plätzen. Die entsprechenden Schlösser wiesen keine Spuren von Fremdeinwirkung auf.“ Doch den Anschlußsatz des Sachverständigen, „... daß für Schlösser dieser Sicherheitskategorie Nachschließsätze existieren, die in ihrer Funktion der des zugehörigen Schlüssels entsprechen und auch keine anderen Spurenmuster erwarten lassen“ verschweigt die Staatsanwaltschaft. Warum?

Gewichtige Zweifel an der objektiven Arbeitsweise der Staatsanwaltschaft ergeben sich aus weiteren Darstellungen. So heißt es auf Seite zwei der Erklärung: „Die Angaben der Frau Ü. über die Umstände, unter denen sie einen unbekannten Mann in der Wohnung gesehen haben will, werden durch objektive Feststellungen widerlegt. Das Fenster, durch das der unbekannte Mann nach draußen geflüchtet sein soll, stand beim Eintreffen der Feuerwehr nicht offen.“ Im „Tatortbefundbericht“ der Polizei steht das genaue Gegenteil: „Entsprechend den festgestellten Spuren ist zu schließen, daß die beiden rechten Fensterflügel angelehnt geschlossen gestanden haben. Der untere linke Fensterflügel dürfte mindestens die Hälfte und der obere linke Fensterflügel etwas weniger geöffnet gestanden haben.“ Weiter wird in dem Bericht festgestellt, daß ein Teil der Glasscheibe herausgebrochen wurde. Und wörtlich heißt es dann: „Um die Glasscherben herum sind Rauchspuren festzustellen, jedoch nicht unter den Glasscherben.“ Ein Befund, der für Rechtsanwalt Heinermann eindeutig darauf hinweist, „daß die Scheibe vor dem Brand zerstört wurde“. Von der herausgebrochenen Scheibe findet sich in der staatsanwaltschaftlichen Erklärung kein Wort. Warum nicht?

Aufklärung über die eklatanten Widersprüche sind aktuell nicht zu erhalten. Man sehe „keinen Anlaß“, von der bisherigen Darstellung abzuweichen, heißt es offiziell bei der zuständigen Pressestelle der Staatsanwaltschaft. Intern beginnen dagegen schon die Rückzugsgefechte. Die Staatsanwaltschaft habe nie erklärt, daß das potentielle Fluchtfenster verschlossen gewesen sei: „Sie müssen die Erklärung schon genau lesen“, hieß es gegenüber der taz. „Nicht offen“ könne ja auch angelehnt heißen. Im Klartext bedeutet das: Die „objektiven Feststellungen“, die die Darstellung von Frau Ünver in diesem gewichtigen Punkt widerlegen könnten, existieren nicht.

Einige Schilderungen der Beschuldigten, z.B. über den Zustand von Türen im Haus, das räumt Rechtsanwalt Heiermann ein, passen dagegen nicht zu den Tatortbefunden. Doch das sei „nicht verwunderlich“ bei den Umständen. Wer panikartig ein brennendes Haus verlasse, könne sich nicht an jedes Detail präzise erinnern. Insgesamt hätten die bisherigen Ermittlungen jedenfalls keinen Anlaß gegeben, die Suche nach den Fremdtätern aufzugeben und „die Opfer in der Öffentlichkeit herabzuwürdigen“.

Ein Motiv für die behauptete Tat können auch die Ermittler nicht vorweisen. Kein Versicherungsbetrug, keine Geldprobleme, keine familiären Konflikte, keine persönlichen Auffälligkeiten – nichts. Die Polizei habe seine Frau in den Vernehmungen unter Druck gesetzt, sagt Yasar Ünver. Falls sie gestehe, habe man ihr eine psychiatrische Behandlung statt Knast in Aussicht gestellt. Das hat ihn empört: „Wir sind seit 17 Jahren glücklich verheiratet. Nie war meine Frau krank.“