Woodstock den Magen ausgepumpt

Sozialarbeiterutopie, Stammestreffen oder bloß Bandsupermarkt mit integriertem Deeskalationssnack? 75.000 garantiert ungewaschene Freaks trafen sich auch dieses Jahr wieder beim Roskilde Festival in Dänemark  ■ Von Andreas Becker

Dänemark ist das Land der Windmühlen und der EG-Opponenten, der zwei großen Biermarken und des Freistaats Christiania, wo nicht nur Dope in Schokoladentafelgröße kursiert, sondern auch Fahrräder montiert werden. Ideale Projektionsfläche für freakige Aussteigerphantasien also.

Und wenn auch die Freaks Nordeuropas inzwischen so integriert ins System sind wie jeder normale Büroangestellte, so gibt es doch noch Orte, wo ihre Welt in Ordnung zu sein scheint. Im dänischen Städtchen Roskilde scheint, zumindest auf den ersten Blick, der Gedanke von Love and Peace weiterzuleben. Woodstock war 69, das Roskilde Festival existiert seit 71. Hier scheint man den Woodstock- Gedanken in Gesetzesform gegossen zu haben. Es gibt keine Ordner mit Holzknüppeln wie in Deutschland, sondern Sozialarbeiter, die einem lächelnd, aber unerbittlich erklären: Mit diesem Eintrittsbändchen kommst du nicht hinter die Bühne.

Die rund 75.000 Besucher in diesem Jahr tragen nicht unerheblich zur Steigerung des Bruttosozialprodukts Roskildes bei. Aber nicht nur deshalb scheinen die Bewohner der Kleinstadt wenig Anstoß zu nehmen an Schnapsleichen in der Fußgängerzone, Horden von Schweden, die mit nacktem Oberkörper, Wikinger-Hörnern auf dem Kopf und Bierkästen in den langen Armen durch die schmucke Innenstadt ziehen. Die Cafés stellen sogar ihre automatisch mit Plastikfolie überzogenen Klos zur Verfügung. Die Stadt erduldet das Festival nicht nur, die Roskilder arbeiten auch noch ohne Bezahlung mit.

Aber auch hier steckt hinter dem aus Freakzeiten herübergeretteten Prinzip der Arbeit ohne Lohn für die gute Sache ein Stück Sozialstaat. Überschüsse vom 4,5-Millionen-Dollar-Etat dieses Jahres, von denen ein Drittel für Künstlergagen draufgeht, werden von der Festivalfoundation an soziale Projekte verteilt. Und so kassiert der Kinderladen um die Ecke für die unentgeltliche Festivalarbeit seiner Erzieher 85 Dollar pro Kopf und Tag.

Neben den sechs großen Bühnen, auf denen von mittags bis nachts um vier Bands auftreten, gibt es zahlreiche Kleinstevents. Man schlendert die Kilometer zwischen den Bühnen entlang und trifft zufällig auf merkwürdige Ereignisse: In einer Ecke wird immer wieder ein Holzhaus, das jeden Tag bunter aussieht, von einem Autokran in die Luft gehievt. An einer Ecke unter freiem Himmel formieren sich, als sei's spontan, Tänzerinnen mit bunten Röcken und Conga-Trommler. Es wird getanzt, die Frauen singen „Salam aleikum“. Hinter den scheinbar zufälligen Kleinkunstaktionen steckt Kalkül: Roskilde-Oberorganisator Leif Skov sieht den Erfolg des Festivals vor allem in der niedrigen Zahl der Polizei- und Rotkreuzeinsätze. Er befürchtet, daß sich die Leute eher prügeln, wenn ihnen nicht so viel Ablenkung geboten wird. Der Dritte-Welt-Soli-Imbiß als Deeskalationssnack.

Wie orientiert man sich nun in einem Wust von über hundert Bands? Am ersten Tag: Sonic Youth auf der weißen Bühne um 19.30 Uhr. Um 20.00 Uhr drei Acts gleichzeitig: Dizzy Mizz Lizzy aus Dänemark, The Tragically Hip (Kanada) und Rusty and Sly auf der „Cabaret Stage“. Auf dem Spaziergang zu Sonic Youth nimmt man gleich noch ein Paar Töne weißrussischen Rock von Novaje Nieba mit. Eine Gruppe, die nicht spätestens nach einer Viertelstunde die Leute in ihren Bann zieht, verliert sofort das Publikum. Wer ständig die Auswahl zwischen mehreren Bands hat, verfährt nach dem Supermarktprinzip: Was gefällt, wird genommen, der Rest drängelnd umgetauscht. Dabei tritt man auch schon mal der Nebenfrau auf den Fuß, die einem die Sicht aufs Produkt verstellt. Da sind die Roskilde-Hippies nicht anders als alle anderen Konsumenten auch. Auch nicht, wenn sich morgens Jungs und Mädchen an der Pißrinne vereint unter den Armen waschen.

Wir bleiben bei Sonic Youth, nicht nur weil sie immer noch hübsche Gitarrenwände aufrichten und Kim Gordon auch aus großer Entfernung noch gut aussieht. Durch unser Ausharren verpassen wir zwar leider den Rai-Sänger Cheb Mami aus Algerien, haben aber das Vergnügen, Bob Moulds Sugar direkt nach Sonic Youth zu hören. Sugar allerdings wirken müde und ausgelaugt von monatelanger Tourerei. Bob Mould will nach Hause, das läßt er im Pressegespräch durchblicken. Warum die Band Sugar heißt? „Ein blöder Name, macht sich aber gut auf Plakaten, außerdem: Wir trinken gern Kaffee.“

Das eigentliche Roskilde-93- Eröffnungskonzert findet dann auf der großen orangefarbenen Bühne statt, vor der allein mindestens die Hälfte der Besucher Platz finden. Es ist die einzige Bühne, bei der Publikum und Musiker nicht gemeinsam unter einer Zeltplane stecken, die im Notfall vor Regen schützt. Neil Young ist nicht zufällig Headliner des diesjährigen Festivals: Er trägt immer noch Karohemden, in den Lederriemen seiner Gitarre sind Peace-Zeichen eingraviert. „Harvest“ ist im gleichen Jahr entstanden, als „Roskilde“ begann.

Über zwanzig Jahre später steht Neil Young unter dem rötlich verfärbten dänischen Himmel und besingt den „Harvest Moon“, die Mundharmonika hängt immer noch wie eine Zahnspange unter dem Kinn. Ist Neil Young Symbol für den Sieg des Hippietums oder für seine Auflösung im System? Seine Reinkarnation als Mode findet es jedenfalls an den vielen Batik-Klamotten-Ständen. Oder im Verkauf von Asien-Kitsch zu horrenden Preisen – das ist ungefährlicher als dealen und bringt mehr Gewinn.

Am nächsten Abend, gleiche Zeit, gleicher Ort: Velvet Underground. Hier nun beschleicht einen das Gefühl der Grabschändung – aber kann jemand sein eigenes Grab schänden? Lou Reed ist Nietzsches Übermensch, John Cale hat eine „Hitler-Frisur“ (ein Zuschauer), Sterling Morrison ist sein eigener Geist, Moe Tucker mimt die trommelnde Hausfrau, Andy Warhol sitzt am Mischpult, fährt sich durchs grausträhnige Haar und verteilt Bananen, und Nico radelt den Horizont entlang. Wie um sich der eigenen Existenz zu versichern, sagt Lou Reed: „Wir sind die einzige Band, die sich Velvet Underground nennen darf.“

Sind VU und Neil Young die Heroen des Gestern, so versucht das Roskilde-Komitee seit einigen Jahren, der neuen Dancefloormusik einen Raum zu geben. Auch wenn man in diesem Jahr eine Bühne einen Tag lang für DJs und HipHopper reserviert hat, bleibt doch der Eindruck einer Alibiveranstaltung. Gleichzeitig besteht die Gefahr des Sammelsuriums: Alles, was gerade tourt, darf mitmachen. Überraschungen gibt's höchstens bei der Unzahl von kleinen, unbekannten Bands – wenn diese nicht auch nur den nächsten Hardrock-Aufguß liefern.

Wirklich spannend waren in diesem Jahr nur die vergleichbar wenigen Rapper. Gang Starr suchen als Quartett den direkten Anschluß an die Jazzszene. Dafür haben sie sich keine Samples mitgebracht, sondern lebende Jazzmusiker. Donald Byrd trompetet und erinnert sich dabei vielleicht zu sehr an Miles Davis und sein letztes Album „Doo Bop“. Sein Kollege Roy Ayers klöppelt auf dem Vibraphon. Dann auch noch die Sängerin D.C. Lee. Die Coolness verflüchtigt sich, der Jazz verdampft wie Jeannie im Glas.

Die Digable Planets fangen es geschickter an. Alles wippt, alles tanzt, die zartgebräunten skandinavischen Mädchen (seufz!) beginnen zu lächeln. Den besten Eindruck in der Sparte HipHop hinterlassen die Disposable Heroes Of Hiphoprisy, vormals Beatnigs. Sänger Franti vergleicht die Sauereien seiner Regierung im Irak und seine Opposition dagegen mit der dänischen Ablehnung der EG- Verträge – und erntet jede Menge Beifall. Auch Fernsehfans werden mit Kritik belegt: Rono Tse tritt eine Glotze zusammen und wirft sie von der Bühne. Einer seiner Kollegen flext einen Fernseher funkenstiebend auseinander.

Ein merkwürdiges Ende des Festivals setzt die Jim Rose Circus Side Show. Vor Tausenden von staunenden Gaffern wird der „King of Torture“ vorgeführt. Er ißt lebende Würmer, Glühbirnen, hängt sich ein Bügeleisen an den erstaunlich dehnbaren Schwanz, und zu guter Letzt läßt er sich durch einen Schlauch, der durch die Nase bis zum Magen führt, ein Gebräu aus Bier (3 Flaschen!), Ketchup und Senf in den Magen trichtern. Dann pumpt der Chef Jim Rose das Gesöff aus dem Magen zurück ins Glas, und nun kommt die Preisfrage ans Publikum: Wer will Freibier? Drei Dänen (?) fackeln nicht lange, stürmen auf die Bühne, kippen das abgepumpte Biergemisch runter, als wär's frisch vom Faß.

Nein, Love and Peace blinzeln etwas seltsam zurück dieses Jahr in Roskilde, und wenn es eine Moral von der Geschicht' gibt, dann wohl diese: Eine gehörige Portion Masochismus scheint notwendig, um sich auch 1993 noch als Freak fühlen zu dürfen.