■ In Tokio steht der neue Ost-West-Konflikt im Vordergrund: Gipfeldämmerung
Der 19. Weltwirtschaftsgipfel in Tokio unterscheidet sich von allen vorherigen Begegnungen der sieben Staatschefs darin, daß er den Grundkonflikt zwischen den westlichen und asiatischen Industriestaaten freilegt, der bisher vom ideologischen Kitt des Kalten Krieges und den Euphorien nach dem Sturz der Berliner Mauer verdeckt wurde.
Japan, sonst eher ein Außenseiter bei den Gipfeltreffen, steht in Tokio im Mittelpunkt der Kritik. Die fernöstliche Wirtschaftssupermacht verfügt aufgrund ihrer geringen Arbeitslosigkeit und einem Plus im Staatsbudget als einziges G-7-Land über die Reserven, neue Mittel für das Wachstum der Weltwirtschaft bereitzustellen. Darüber hinaus provoziert Japan mit seinem gigantischen Handelsüberschuß von derzeit über 200 Milliarden Mark im Jahr den Neid und Unmut aller westlichen Handelspartner. Wie lassen sich diese Ungleichgewichte ausgleichen?
Immerhin nennen die G-7-Länder jetzt beim Namen, worum es ihnen in Wirklichkeit geht. „23 Millionen Menschen sind in unseren Ländern arbeitslos, das ist unakzeptabel“, heißt es im gestern bekanntgewordenen Entwurf der Abschlußerklärung des Gipfels. Diesen Imperativ, der längst die französischen Blockaden im Agrarhandel und die amerikanischen Quotenforderungen für japanische Importe diktiert, versteht jedoch in Asien niemand. Nicht etwa, daß es in Japan und den aufstrebenden Industriestaaten Südostasiens keine Arbeitslosen gäbe. Aber die Regierungen kümmern sich nicht um sie.
Nur wenige Europäer können sich vorstellen, wie in Japan ein Sozialsystem funktioniert, das noch vollständig auf der Eigenfinanzierung der Renten beruht. Einen Wohlfahrtsstaat hat es in Asien noch nie gegeben. An den hohen Sozialausgaben aber drohen die Freihandelsprinzipien des Westens nun zu scheitern. Präsident Clinton rief die Japaner in Tokio zu mehr Konsum und höheren Sozialausgaben auf, Präsident Mitterrand überdeckte gleich ganz Ostasien mit dem Vorwurf des „Sozialdumping“ – ändern werden beide den Fernen Osten nicht. Was aber dann?
Die Wirtschaftsexpansion im Fernen Osten hat längst den Punkt erreicht, wo Freihandel den Abbau westlicher Privilegien bedeutet. Der Gipfel in Tokio hat das erkannt und in der Verzweiflung folgerichtig das nächste Treffen beschlossen: In Amerika will Clinton mit den Finanz- und Wirtschaftsminister der G-7-Gruppen im Herbst einen „Gipfel der Arbeitslosigkeit“ abhalten. Werden die Japaner dann überhaupt noch kommen? Georg Blume, Tokio
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