■ Vuk Drašković vor dem Hungertod?
: Serbiens letzter Aufschrei

Vuk Drašković, der zusammengeschlagene und eingekerkerte serbische Oppositionsführer, hat einen Hungerstreik begonnen. Letzten Donnerstag war das eine der Hauptschlagzeilen in der Weltpresse und gleichzeitig Beweis dafür, daß die Welt nicht weiß, worauf es in Serbien ankommt. Die wirklich wichtige Information dieses Tages wurde nicht erwähnt: das Belgrader Fernsehen hat mit keinem Wort über den Hungerstreik berichtet. Woraus folgt, daß 90 Prozent der Bürger Serbiens über Vuks in Briefform übermitteltes Testament Bescheid wußten.

Zu einer Zeit, wo sowohl in Serbien als auch weltweit Spekulationen über unseren Nationalcharakter angestellt werden, gerät leicht unsere Haupteigenschaft aus dem Blickfeld – wir sind nicht informiert. Das trifft auf den Krieg in Bosnien zu, aber auch auf die Ereignisse, die sich im Zentrum Belgrads abspielen. Selbst die Belgrader wollen, zumindest in ihrer Mehrheit, einfach nichts wissen. In den letzten Tagen wurde die Stadt von Gerüchten überflutet. Gefälschte Briefe von Vuk Drašković lösten sich ab mit falschen Zeugenaussagen, sogar Pseudo-Anwälte der Gefangenen traten auf. Alles im Geist und in der Tradition der Sicherheitsdienste. Drašković zu ermorden war gar nicht nötig. Es hätte gereicht, ihn politisch zu zerstören. Die UDBA (der serbische Sicherheitsdienst) weiß genau, wie man so etwas in Szene setzt. Die Sicherheitsleute arbeiteten hart daran, Vuk und Danica Drašković aus unserem Gewissen zu entfernen. Entweder hatten sie die Prügel verdient, oder es hatte gar keine Prügel gegeben, oder sie hatten sich ihre Verletzungen selbst zugezogen – jeder konnte sich der bevorzugten Version bedienen.

Vuk hatte keine Wahl

Mit seinem Hungerstreik hat Vuk das dichtgewebte Lügengespinst der Polizei zerrissen. Er hatte keine andere Wahl als den Hungerstreik. Das ist der letzte Aufschrei Serbiens. Ich verstehe die Leute, die ihr Abendessen in Frieden zu sich nehmen wollen, aber ist nicht allmählich die Zeit gekommen, den Appetit zu verlieren? Vuk Drašković hätte sich aus dem Gefängnis herauswinden können. Es hätte nur eines Satzes bedurft: Es tut mir leid, und künftig will ich mich wieder der Literatur zuwenden. Aber er entschied sich für etwas, das nicht nur seine Privatsache ist, und er beschloß, für diese Sache notfalls zu sterben. Nicht alle von uns können diesem Beispiel folgen. Unsere ganz privaten Wünsche arbeiten gegen uns. Wenn wir es aber diesmal wieder nicht schaffen, unseren Willen gemeinsam auszudrücken, sind wir nichts als Gefängniswärter.

Es ist leicht, die Prinzipien der Humanität und der Menschenrechte in den Mund zu nehmen, sie einzufordern. Ich zumindest denke, daß das wichtigste Prinzip jetzt darin besteht, Vuk Drašković nicht Hungers in einem Belgrader Gefängnis zugrunde gehen zu lassen. Nicht Vuk, nicht jetzt und nicht hier. Zugegebenermaßen klingt das nicht besonders universalistisch. Ich kann mir nur nicht vorstellen, daß Belgrad den Tod eines Mannes verkraften könnte, der in den schlimmsten Tagen ihr „Gesicht“ rettete. Es ist jetzt auch nicht mehr so wichtig, was Milošević will und wofür sein Regime steht. In dieser Stadt soll ein biblischer Opfertod über die Bühne gehen. Wenn das geschieht, soll bitte niemand mehr St. Sava anrufen. Denn dann ist erwiesen, daß wir hier von christlicher Moral nicht den blassesten Schimmer haben,

Romantische Rebellion

Es geht hier auch nicht mehr länger um Politik. Vuk Drašković wurde in der Manier eines romantischen Rebellen in die Politik verwickelt. Er folgte seinem Herzen, auch dann, wenn das politisch nicht profitabel war. Das ist die einzig richtige Art, auf politische Gewalt zu reagieren. Der Großteil der serbischen Opposition erklärt, daß es in diesem Land keine Demokratie gäbe, aber verhält sich so, als ob sie doch existierte. Drašković weigerte sich, an der Massenlüge teilzunehmen. Damit bezog er einen Standpunkt, der nicht primär politisch, sondern moralisch war. Er erhielt sich ein klares und unkorrumpiertes Gefühl für die Freiheit, und gerade deshalb wurde er für das Regime zu einem so großen Problem. Milošević wußte nicht, was er mit ihm anfangen sollte. Nur eins war ihm klar: er konnte ihn nicht frei herumlaufen lassen, wenn er ein richtig ordentliches Terrorregime installieren wollte. Vuks Freiheitsliebe hat ihn auf direktem Weg ins Gefängnis geführt, und für einen freien Mann ist der Hungerstreik bis zum Tod die letzte Geste der Freiheit.

Vuk ist auch für viele Leute aus der Opposition zum Problem geworden. Einige versichern, sie seien keine Nationalisten, aber sie müßten aus taktischen Gründen so tun, als wären sie welche. Deswegen könnte sie keine offene Opposition gegen Milošević' Kriegsabenteuer wagen. Bei Vuk ist es genau umgekehrt. Gerade weil er selbst Nationalist ist, überzeugt er, wenn er entschlossen gegen den Wahnsinn des Krieges vorgeht, dagegen, daß die Freiheit dem nationalen Interesse geopfert wird. Wenn man Vuk und Milošević vergleicht, wird man verstehen können, warum gerade die betrügerischen, unechten Nationalisten soviel Unglück über uns gebracht haben.

Sicher wird die westliche Presse Vuk und Danica unter ihre Fittiche nehmen. Westlichen Diplomaten wird es nicht mehr so leicht fallen, mit einem Mann zu sprechen, der den Oppositionsführer im Gefängnis sterben läßt. Aber wir sollten nicht glauben, daß westliche Pressionen diesmal irgend etwas von Bedeutung ändern werden. Milošević ist überzeugt, daß er die Siegesformel gefunden hat: je mehr Druck aus dem Westen, desto größer seine Hartnäckigkeit und Brutalität. Auch diesmal wird er sich an diese Maxime halten.

Der Countdown läuft

Ein dramatischer Countdown hat begonnen. Der Sand rinnt durch Vuks Lebensuhr, und mit jedem Tag ist mehr Tod in ihm und weniger Leben. Milošević lehnt es offensichtlich ab, über das Thema zu reden. Reden war andererseits das einzige, was die Verteidigung von Vuk zustande brachte – und das hat sich als fruchtlos herausgestellt. Deshalb sind jetzt die Führer der serbischen Oppositionsparteien am Zug. Ich glaube, daß sie zuerst versuchen werden, Vuk zur Aufgabe zu bewegen. Es wäre ein Wunder, wenn er ihnen zuhören würde. Milošević' Wohnung in der Tolstojewastraße wäre dann die nächste Adresse, die sie ansteuerten. Das Resultat wird das gleiche sein. Und dann? Werden sie die Nerven haben zu sagen, sie hätten das menschenmögliche getan, um daraufhin ins Parlament zurückkehren? Werden sie auf Drašković' Tod warten und an ihren Nekrologen feilen? Aber wie will die Opposition überleben, wenn Drašković stirbt? Welche Hoffnung auf einen Wechsel wird es dann geben?

Vielleicht sind jetzt einige Leute versucht zu denken, daß Milošević einen Fehler gemacht hat, weil Vuk keine Bedrohung mehr für ihn darstellt. Wer so denkt, sollte sich lieber an die Expertenmeinung der Sicherheitspolizei halten. Die Polizei kennt den Stand der Dinge besser als wir. Sie weiß, wen sie zu fürchten hat. Vielleicht haben sie nicht mit einem Hungerstreik gerechnet, aber vielleicht wissen sie auch immer noch nicht, ob Drašković lebendig gefährlicher ist als tot. Stojan Cerović

Der Autor ist Kolumnist der Belgrader „Vreme“ und aktiv in der serbischen Friedensbewegung.

Übersetzung: Christian Semler