Arkadien, ein Kaufhaus

Julien Gracq porträtiert Rom und trifft Europa  ■ Von Michael Bienert

Dieser Autor, Jahrgang 1910, hat sich der Schnellebigkeit des zeitgenössischen Literaturbetriebs immer verweigert. 1951 provozierte Julien Gracq die Literaturpäpste mit der Ablehnung des Prix Goncourt für seinen Roman „Le Rivage des Syrtes“ („Das Ufer der Syrten“, dt. 1953). Statt eine Laufbahn als Berufsschriftsteller einzuschlagen, arbeitete er bis 1970 als Geographie- und Geschichtslehrer in Paris. Nebenbei entstand in aller Stille ein schmales, aber gewichtiges Werk: Erzählungen und Essays, Gedichte und ein Theaterstück.

Zu seinem 75. Geburtstag veröffentlichte er den Prosaband „La forme d'une ville“ („Die Form einer Stadt“, dt. 1989), eine Synthese aus Elementen der Genres Essay, Stadtbeschreibung und Autobiographie. Das Buch handelt von Nantes, wo der Autor zur Schule ging, seinen Militärdienst abgeleistet und als Lehrer unterrichtet hat. Private Erlebnisse und Erinnerungen sind aber nur das Rohmaterial für eine exemplarische Studie über das Verhältnis von Ich und Stadt. Gracq analysiert, wie er von Nantes geformt und wie die Stadt für ihn zur Projektionsfläche wurde, so, daß sein Bild der Stadt mehr seinen innersten Traumbildern als den materiellen Gegebenheiten entsprach.

Drei Jahre nach dieser späten Reflexion über die ihm vertrauteste Stadt erschien ein weiteres Stadtporträt: „Autour des sept collines“ (1988), das jetzt unter dem unnötig vereindeutigenden Titel „Rom“ von Reinhard Palm ins Deutsche übertragen wurde. Um das dünne Reisebüchlein zu schreiben, hat sich Gracq zwölf Jahre Zeit gelassen. Noch länger dauerte es, ehe er, ungewöhnlich für einen studierten Geographen und Historiker, überhaupt seinen Fuß auf römischen Boden setzte. Als Gracq die für jeden gebildeten Europäer unabdingbare Italienreise antrat, war er 66 Jahre alt.

Nichts habe ihn dazu gedrängt, und er habe auch nicht vorgehabt, über Rom zu schreiben, bekennt er. Den Mythos der ewigen Stadt empfand er nicht als Verlockung, vielmehr als Last. Gracq nahm sich vor, sich davon nicht einschüchtern zu lassen, und tatsächlich ist es ihm gelungen, sich aller Belesenheit zum Trotz einen unbefangenen, wenig respektvollen Blick zu bewahren.

Wie sehr sich die Haltung französischer Italienreisender von der deutschen Bildungstradition abhebt, wird aus einem Ausspruch Bretons deutlich, den Gracq eingangs zitiert. Auf die Frage, warum er nicht nach Griechenland fahre, soll Breton geantwortet haben: „Weil ich, Madame, Besatzer nicht besuche. Und seit zweitausend Jahren sind wir nun von den Griechen besetzt.“ Ganz so voreingenommen ist Gracq zwar nicht, aber wie ein Fremder in Feindesland notiert er mit Genugtuung alle Einzelheiten, in denen Italien hinter der Heimat zurücksteht.

Da er nicht im Sinn hat, ein imaginäres Italien zu suchen, findet er das reale. Statt Arkadien durchreist er öde Landschaften, in denen ihn Heimweh befällt. Auch die antiken Kunstwerke erweisen sich bald als von ermüdender Eintönigkeit. „Ich bin erstickt in Rom und Florenz – in Verwunderung erstickt –, ein wenig wie in der Dumpfheit eines Museums ohne Fenster: ästhetisches Brodeln im verschlossenen Topf. Unmaß in der Anhäufung von Kunst, kombiniert mit einem Mangel an Raum und Weite.“ Ein unaufgeräumtes Kaufhaus, eine parasitäre Stadt, ein geöffneter Leichnam – in solchen Metaphern bündelt Gracq seine römischen Impressionen.

Die Römer schildert er als Volk von Kirchendienern, denen es an Ernsthaftigkeit mangelt, die lieber spielen als wirklich leben, deren Spontaneität jedoch von der erdrückenden Geschichtlichkeit der Stadt gelähmt wird. Seine Unfähigkeit, die Begeisterung deutscher Romreisender zu teilen, erklärt er sich aus der Wesensverwandtschaft der Italiener und Franzosen: Die römische Mentalität und Lebensweise ist ihnen einfach fremd genug, um sie unkritisch zu bejahen.

Um keinen Preis will sich Gracq von Rom verzaubern lassen. Er reflektiert die Mythen der Stadt, schaut genau hin, unterzieht sie dem analytischen Blick des Geographen und Historikers. Unter dem nüchternen Blick wird die Stadt nur interessanter. Gracq macht ihr das größte Kompliment, das man von diesem abgeklärten Flaneur erwarten kann: Er habe sich in Rom nie gelangweilt.

Erst Jahre später, nach der traumhaften Neuordnung des Gesehenen im Gedächtnis, wird ihm bewußt, welch tiefen Eindruck die Stadt in ihm hinterlassen hat: „Das Andenken, das ich an Rom bewahre ... läßt sich von jenem gerissenen Ariadnefaden aus den Träumen führen, wo die Tür des vertrauten Zimmers, die man soeben hinter sich geschlossen hat, unvermutet auf einen Sturmangriff im Unterholz geht oder einen von Krokodilen wimmelnden Flußarm. Für mich bleibt die Stadt von nackten und mondkahlen Räumen zerrissen, in denen sich die Ruinenfelder mit den wahnsinnigsten Pflanzen versammeln, die sie nach und nach eingekreist hat; eine heimtückisch-zerstörerische Ödnis unterwandert die Stadt, die mehr Brandschatzungen gekannt hat als jede andere. Der chronische Unterschied, der seit fünfzehnhundert Jahren nie ausgeglichen wurde und die Stadt zwischen dem, was sie ist, und dem, was sie bedeutet, schwanken läßt, poetisiert sie für mich, jetzt durch ihre – nicht mehr historische, sondern kartographische – Untauglichkeit zu sein: lückenhaft, mit beunruhigenden, noch nie geschauten Lichtungen versehen, die im Traum hellwach ich weiß nicht welche außerzeitlichen Science-fiction-Landungen zu erwarten scheinen.“

Gracq bringt Rom nicht auf einen Begriff, er setzt das widersprüchliche Bild der Stadt aus vielen Prosasplittern zusammen. Die Ambivalenz, mit der er sich Rom genähert hat, löst sich vor Ort nicht auf, und doch ist sein Buch eine heimliche, ganz und gar versachlichte Liebeserklärung an die Stadt – nicht an ihren Mythos, sondern an ihre Urbanität, an die Kraft, sich auf den Trümmern der Vergangenheit immer wieder zu erneuern.

Es ist ein Plädoyer für Rom als europäische Stadt, als bewohnbares Museum, in dem sich die Bewohner aus der dicken Halde historischer Schichtungen immer neu ein passendes Gehäuse bauen. Dieser Typus Stadt ist im Begriff zu verschwinden. Vorgefertigte Betonstallungen ohne Bezug zu den Bedürfnissen der Bewohner ersetzen ihn, Städte, die schwer zu bewohnen und kaum zu erneuern sind. Was eine Stadt wie Rom – jenseits aller Mythen – wirklich wert ist, wird für Gracq erst recht begreiflich in Erwartung künftiger „Kadaver-Städte, die sogar die Brombeere und Brennessel von ihren Fundamenten abstoßen und im Angesicht des Himmels ihre rostigen Eiseninnereien ausbreiten.“

Beharrlich hat sich Gracq geweigert, in Rom den Inbegriff der europäischen Kultur zu sehen. Zuletzt reiht er sich doch in die Kette der Autoren ein, die, indem sie Rom beschreiben, Europa meinen. Bei Gracq ergibt sich diese Konjunktion absichtslos, aus der Hingabe an die Stadt – das macht seinen kulturkritischen Reisebericht zu einem der gelungensten Texte des Genres.

Julien Gracq: „Rom. Um die sieben Hügel“. Aus dem Französischen von Reinhard Palm. Amman Verlag 1993, 100 Seiten, geb., 34 DM