Vor dem Knall fehlte es an allem

Die Arbeiter in der Atomfabrik von Tscheljabinsk protestieren, weil Ersatzteile fehlen / Die Anlage verseucht die Umgebung mit Plutonium  ■ Von Niklaus Hablützel

Berlin (taz) – Wenn die Nachrichten aus dem atomaren Sperrgebiet zutreffen, ist die sibirische Millionenstadt Tscheljabinsk wieder einmal glimpflich davongekommen. Am Samstag explodierte um 20 Uhr Ortszeit in der etwa 15 Kilometer entfernten Militäranlage mit der heutigen Verwaltungsnummer 65 ein Tank von 20 Litern Fassungsvermögen. Harmlos kann sein Inhalt nicht gewesen sein. Die Werksfeuerwehr maß danach eine Radioaktivität von 0,172 Millicurie. Menschen seien dadurch nicht zu Schaden gekommen, hieß es, auch sei der radioaktive Stoff nicht in die Kanalisation gelangt. Die freigesetzte Strahlung betrage nur drei Prozent der im Werk zugelassenen täglichen Strahlendosis.

Die Internationale Atomenergieagentur (IAEO) ordnete den Unfall in die unterste ihrer insgesamt sieben Gefahrenstufen ein. Erst gestern allerdings traf aus Moskau eine Expertenkommission ein, die den Unfall genauer untersuchen will, auch der deutsche Umweltminister Töpfer bot in dieser Hinsicht seine Hilfe an.

Ausländische Kontrolleure dürften in der Zone 65 von Tscheljabinsk kaum willkommen sein. Zwar ruht seit diesem Jahr offiziell die Produktion von Waffenplutonium, die einst dafür gebauten fünf Reaktoren liegen still. Aber die Wiederaufbereitungsanlage, die aus den militärischen Brütern das Plutonium gewann, arbeitet unvermindert weiter. Sie wird heute von 23 zivilen Schwerwasserreaktoren des Sowjetischen Bautyps WWR-440 und WWR-210 mit abgebrannten Brennstäben beliefert, zu den Kunden gehören auch osteuropäische Staaten, die nicht der GUS angehören, aber sowjetische Atomkraftwerke betreiben.

Auf dem Werksgelände befinden sich neben der Wiederaufarbeitungsanlage eine schlicht und rätselhaft „RT-1“ genannte „Strahlen-Isotopen-Anlage“, dazu kommen Lager für hochradioaktive Abfälle, für Brennelemente, für wiederaufbereitetes Plutonium und Uran, nebst schwer zu qualifizierenden Abfallhalden für andere radioaktive Stoffe wie sie beim Prozeß der Wiederaufarbeitung anfallen – ein auch unter normalen Umständen kaum beherrschbares Gemisch.

Seit dem Zusammenbruch des Sowjetsystems ist die Gefahr noch größer geworden, mit Unfällen ist täglich zu rechnen. Die etwa 10.000 Menschen, die allein in Tscheljabinsk-65 arbeiten, fühlen sich von den neuen Herren in Moskau verraten. Der militärisch-industrielle Komplex ist verunsichert, in den Atomwaffen-Forschungslabors „Arzamas-16“ und „Tscheljabinsk-70“ sind für Mai und Juni noch keine Gehälter bezahlt worden.

Die englischsprachige Ausgabe des Nachrichtendienstes IPS berichtet, daß die dort Angestellten mit einem Streik drohen, sie fordern eine Anpassung ihrer Löhne an die Inflation. Aber die Labors sind pleite, sie können dringend nötiges Material und Ersatzteile nicht mehr bezahlen, die örtlichen Industrie- und Handwerksbetriebe haben zum Teil ihre Lieferungen bereits eingestellt.

In Gefahr ist damit nicht nur das Programm zur Verschrottung von Atomsprengköpfen. Die Vereinigung der Nuklearwaffen-Arbeiter schrieb in einem offenen Brief an Präsident Boris Jelzin, daß heute niemand mehr Atomunfälle ausschließen könne, deren Folgen mit Tschernobyl vergleichbar wären.

Der Verband fordert unter anderem Mittel vom Staat, um Lagertechniken für Plutonium entwickeln zu können. Der Brief schließt mit einer fatalen Drohung. Die Arbeiter von Arzamas und Tscheljabinsk seien derzeit nicht mehr in der Lage, die nukleare Sicherheit des Landes zu gewährleisten. Sie könnten sich daher entschließen, dieser Arbeit „den Rücken zu kehren“.

In manchen der ehemals sowjetischen Atomfabriken ist dieser Zustand fast schon erreicht. Die Iswestija berichtete gestern aus den Anlagen von Krasnojarsk-26, daß dort die Betriebsmannschaft für nichts mehr garantieren könne. In Krasnojarsk liegen Tausende Tonnen festen und flüssigen Atommülls. Die zur Wartung dieser Atomlager ausgebildeten Techniker hätten die Plutonium-Fabrik verlassen, schreibt die Zeitung, um anderswo besser bezahlte Jobs zu finden.

Die Atomwirtschaft stößt aber auch zunehmend auf Protest der Anwohner. Nach Angaben der Grünen in der Bezirkshauptstadt Tscheljabinsk hat der Ausschuß für nukleare Sicherheit in der Region nachgewiesen, daß die Anlagen mit der Nummer 65 seit Jahren die Umgebung mit Plutonium verseuchen. Der in den Jahren 1976, 1978, 1988 und 1992 ermittelte Gesamtgehalt von Plutonium war vom Ausgangswert von 2 auf 10, dann 100 und schließlich 200 Prozent angestiegen. Trotzdem war 1992 und 1993 mit den USA ein Vertrag über die Lieferung weiteren Plutoniums nach Tscheljabinsk vereinbart worden. Obwohl sich der überwiegende Teil der Bevölkerung in einem Referendum gegen diesen Import von Atommüll ausgesprochen hatte, habe der Rat des Bezirkes in diesem Jahr die Einfuhr radioaktiver Abfälle im Umfang von 250 Tonnen genehmigt, klagen die Grünen.

Die politische Situation im Bezirk sei geprägt durch einen Machtkampf zwischen Anhängern des russischen Präsidenten Boris Jelzin und seines Opponenten Chasbulatow, die beide an der Weiterexistenz des Atomkomplexes interessiert seien. Der ehemalige zweite Bezirkssekretär der Kommunistischen Partei, Pjotr Sumin, habe gedroht, man werde Tscheljabinsk-65 privatisieren lassen, wenn seinen Forderungen nicht entsprochen werde. Eine Aussicht, die angesichts der militärischen Bedeutung der Anlage Rüstungsexperten durchaus um den Schlaf bringen könnte.

Nur Menschen, die auch heute noch blindes Vertrauen in die Atomlobby haben, glauben noch den Beschwichtigungen des Atomministeriums, die „Havarie“ in der Fabrik stelle keine „ernsthafte Bedrohung“ dar. Die Grünen wollen insbesondere deutsche Hoffnungen auf Kooperation im Atommüllgeschäft dämpfen. Nach einem in Vorbereitung befindlichen Vertrag im Finanzvolumen von einer Milliarde Mark solle der Bezirkssowjet verpflichtet werden, jährlich „5.300 Behälter mit abgebrannten Brennstoffen aus Deutschland“ anzunehmen.