Das Leben vor dem Tode

Der Jüdische Friedhof Rödelsee in Franken, seine Geschichte und seine Menschen. Eine Ausstellung  ■ Von Henryk M. Broder

Eine Ausstellung über einen jüdischen Friedhof in Deutschland ist auf den ersten Blick aus mehreren Gründen suspekt. Zum einen ist das ganze Land ein riesiger Friedhof, auf dem die Seelen der sechs Millionen Ermordeten herumirren, ein Geisterhaus, in dem die Toten keine Ruhe finden und die Erben der Mörder rastlos von einem Fettnapf zum anderen torkeln. Mal erklärt der Abteilungsleiter eines Landesrechnungshofes das formale Prinzip der Wirtschaftlichkeit mit den anschaulichen Worten: „Mit weniger Gas mehr Juden“, mal sagt ein bekannter Dominikaner-Pater und Kanzler- Berater bei einem öffentlichen Vortrag, Juden und Polen wären „die größten Ausbeuter des deutschen Steuerzahlers“, mal behauptet der Vorsitzende einer ehemaligen Staatspartei, „wenn keine Ausländer oder Juden zur Verfügung stehen, ist die PDS das nächste Opfer“. Und zugleich unternehmen einige Juden einen Balanceakt über dem Abgrund, indem sie eine Normalität wiederherzustellen versuchen, die nach Auschwitz höchst anomal ist. In Ost-Berlin wurde noch zu DDR- Zeiten eine orthodoxe jüdische Gemeinde rekonstruiert, obwohl es keine orthodoxen Juden in der Stadt gab. Der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, nennt sich neuerdings „deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ und greift damit auf eine Formel zurück, die sich schon einmal als wertlos erwiesen hat, während der Historiker Michael Wolffsohn einen Schritt weitergeht und als ein „deutsch-jüdischer Patriot“ anerkannt werden möchte. Und inmitten all dieser Wiedergängerei, des vegetativen Antisemitismus der einen und der Sehnsucht nach Anerkennung der anderen, kommen zwei Nachgeborene daher und dokumentieren ein Stück jüdischen Alltags, wie er mal war und nie wieder sein wird: „Nichts mehr zu sagen und nichts zu beweinen — Ein jüdischer Friedhof in Deutschland“.

Das Motto ist ein Zitat von Allen Ginsberg, der Friedhof liegt in Franken, unweit von Würzburg, in einer Gegend, aus der die Familien von Erich Fromm und Henry Kissinger stammen, in der seit dem Ende des 11. Jahrhunderts Landjuden lebten, bis die Nazis auch diesen Teil Deutschlands im Herbst 1942 „judenrein“ säuberten. Christian Reuther, geboren 1963, Fotograf und Ausstellungsdesigner, und Michael Schneeberger, geboren 1949, Historiker und Familienforscher, wollten mit ihrer Arbeit anfangs nur den fortschreitenden Verfall des 1563 angelegten und seit den vierziger Jahren nicht mehr benutzten Friedhofs Rödelsee zeigen, das „Versinken der Erinnerung in die Sprachlosigkeit des Anonymen“.

Herausgekommen ist weit mehr: eine umfassende Darstellung des ganz normalen Lebens vor dem Tode in einem ländlichen Milieu, das Gegenstück zu Kopfjudentum, Asphaltdichtung und städtischer Dekadenz. Von den 113 aktiven Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde Kitzingen waren im Jahre 1905 nicht weniger als 69 im Weinhandel tätig. Der Weinhändler Max Fromm hat den „Bocksbeutel“ als Markenzeichen für fränkischen Wein eingeführt und die dazugehörigen Etiketten vom Direktor des Städelschen Kunstinstituts in Frankfurt entwerfen lassen — um Kunst und Künstler zu fördern.

Wer immer zeigen möchte, wie Juden in Deutschland vor 1939 gelebt haben, egal ob in der Stadt oder auf dem Land, muß mit dem Ende anfangen und dann sozusagen im Rückwärtsgang die Geschichte abschreiten. Kernstück der Ausstellung von Reuther/Schneeberger sind acht Groß-Fotos im Format 1:1 von Grabsteinen vom Friedhof Rödelsee, fünf gut erhalten, drei in verschiedenen Stadien der Verwitterung. Zu jedem Grabstein haben die Ausstellungsmacher die Biografien der „Besitzer“ recherchiert. Und nicht nur das. Sie haben in detektivischer Kleinarbeit die Lebensläufe der Angehörigen, der Vorfahren und der Kinder der Begrabenen, rekonstruiert. So entsteht ein engmaschiges Netz von Namen, Daten, verwandtschaftlichen Beziehungen, kleinen Geschichten vor dem Hintergrund der großen Geschichte. Die Biografien fangen in Franken an und enden in Theresienstadt, Auschwitz, Sobibor, Bergen-Belsen, Gurs und Sachsenhausen, bei den Überlebenden in New York, Amsterdam und Israel.

Es ist wahr: Steine sind keine stummen Zeugen, man muß nur wissen, wie man sie zum Reden bringt. Zu den Geschichten der acht Grabsteine kommen acht Porträts (die Zahl acht hat in der jüdischen Mystik die Bedeutung von unendlich) jüdischer Familien aus Franken, die sich auf irgendeine Weise hervorgetan haben: die Gersts und die Benarios, die Fromms und die Rothsteins, die Hahns, die Bambergers und die Wohlgemuths: Dr. Joseph Wohlgemuth übernahm 1913 mit 28 Jahren das Rabbinat für den Kreis Kitzingen. Er starb 1935 und hinterließ drei Söhne. Isaiah, der jüngste Sohn Leo wurde zusammen mit der Mutter in einem KZ ermordet. Das Grauen kommt gelegentlich im Gewand einer verunglückten Heimatgeschichte daher.

Einige der Geschichten, die Reuther/Schneeberger aus Erinnerungen und Dokumenten zusammengetragen haben, zeugen von historischen Brüchen, denen auch die Juden in der Idylle einer Weinbauregion nicht ausweichen konnten. Martin Stiebel war nicht nur Jude, er war auch Kommunist. 1899 geboren, wurde er im Frühjahr 1933 in das Lager Dachau gebracht, wo er ein Jahr später in einer Einzelle erhängt gefunden wurde. Kein Mensch wollte verstehen, warum er so enden mußte. „Wie konnte ein junger, intelligenter Mensch, der verdienstvoll im Weltkrieg gekämpft hatte, der aus frommer jüdischer Familie im konservativen Kitzingen kam“, fragten sich die Kitzinger Juden, „wie konnte jemand wie er Kommunist werden?“

„Nichts mehr zu sagen und nichts zu beweinen“ ist eine räumlich kleine aber inhaltlich ungeheuer dichte Ausstellung, der es gelingt, die richtige Balance zwischen dem kuriosen Detail und dem dramatischen großen Ganzen zu finden. Da hängt ein Gruppenfoto, vergrößert auf 3,60 x 2,20 Meter, es zeigt 17 energisch dreinblickende Matronen, denen man sich nur vorsichtig auf Zehenspitzen nähern würde, um sie nicht unnötig zu provozieren. Es sind die Angehörigen der „Heiligen Gesellschaft“ (Chewra Kaddischa), deren Aufgabe es war, Kranke zu betreuen, Sterbenden beizustehen und Tote würdig zu begraben. In der jüdischen Tradition ist der Dienst in der „Chewra Kaddischa“ eine große „Mitzwa“, eine gottgefällige Tat, und die höchste Form der Menschenliebe, da man von denjenigen, denen sie gilt, keinen Dank erwarten kann. Die Damen der letzten Chewrah Kaddischa von Kitzingen, die 1705 gegründet und 1942 aufgelöst wurde, treten dem Besucher zuerst als Kollektiv und dann einzeln in Biografien gegenüber: Frau Stern, Frau Rothstein, Frau Wertheim... Elf der siebzehn Frauen kamen in Lagern ums Leben, eine liegt in Rödelsee, eine in Würzburg begraben, vier überlebten den Krieg oder wanderten rechtzeitig aus.

Die Ausstellung von Reuther/ Schneeberger ist konventionell gemacht, fällt dennoch aus dem Rahmen. Die Beschäftigung mit jüdischen Themen, mit jüdischer Geschichte erfolgt in der Bundesrepublik normalerweise unter der Prämisse der „deutsch-jüdischen Symbiose“ bzw. des „jüdischen Beitrags zur deutschen Kultur“. Was Juden gemacht und gedacht, geschrieben und erfunden, komponiert und inszeniert haben, das haben sie nicht aus sich und für sich getan, sondern um die deutsche Kultur zu bereichern, sie waren sozusagen ein erstes multikulturelles Gewürz im deutschen Eintopf.

Was auf den ersten Blick als Kompliment erscheint (und auch von vielen Juden so empfunden wird) ist eine Technik der Ausgrenzung durch Inanspruchnahme. Wenn die Juden nur einen Beitrag zur allgemeinen deutschen Kultur geleistet haben, dann hatten sie erstens keine eigene und zweitens waren die deutschen Kulturverwalter frei, darüber zu entscheiden, wann sie auf weitere Lieferungen jüdischer Beiträge zum deutschen Kulturleben verzichten mochten. Was sie auch folgerichtig von 1933 an taten. Die Fortsetzung dieser nationalen Ex-und-Hopp- Ideologie findet man heute in den Reden und Beiträgen zur Woche der Brüderlichkeit, wenn der „große Verlust“ beklagt wird, den Deutschland durch die Vertreibung und Ermordung der Juden erlitten hat, so als wären nicht die Vertriebenen und Ermordeten die Leidtragenden, sondern die Gemeinschaft der Verfolger. So werden die Juden mal positiv, mal negativ instrumentalisiert; erst dürfen sie die deutsche Kultur mit ihren Beiträgen bereichern, dann werden sie aus dem Weg geräumt, damit die deutsche Kultur sich ungehindert entfalten kann, und schließlich müssen sie sich anhören, wie sehr sie mit ihrem Verschwinden aus der deutschen Kultur derselben geschadet haben.

Solcher Schmäh kommt in der Ausstellung von Reuther/Schneeberger nicht vor, sie ist unpathetisch und im besten Sinn „anspruchslos“. Daran mag es liegen, daß alle öffentlichen Stellen, die um eine Förderung gebeten wurden, uninteressiert abwinkten: die Landeszentrale für politische Bildung in Nordrhein-Westfalen, die Bundeszentrale für politische Bildung in Bonn, der Kunstfond e.V., der von der Bundesregierung unterhalten wird und „Modellvorhaben“ unterstützen soll. Dabei handelt es sich um Beträge, die keine lange Diskussionen lohnen. Die Materialkosten liegen bei 40.000 DM, alles Übrige hat noch einmal dieselbe Summe gekostet. Viel Geld für zwei Privatforscher, „Peanuts“ für einen Kulturbetrieb, in dem jedes Projekt gefördert wird, wenn es nur großkotzig genug daherkommt. Da haben sich Reuther/Schneeberger selbst Steine in den Weg gerollt. In der Texttafel über die Familie Hahn heißt es: „Die Enkel, die Urenkel und die Ururenkel leben in Israel und in Amerika. Wir wissen nicht, wer von ihnen das Grab der Ricka Hahn kennt. Aber wenn sie kommen, sollen sie es finden. — Das ist das wenigste.“

Es ist weit mehr, als man nach einer Endlösung erwarten kann, bei der auch die Toten nicht verschont wurden.

Die Ausstellung „Nichts mehr zu sagen und nichts zu beweinen“ wurde schon im Stadtmuseum Siegburg und im Museum für Sepulkralkultur Kassel gezeigt. Vom 24. Juli an wird sie im Museum Bochum zu sehen sein.