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Rücktritt von Miyazawa / Stühlerücken in Japan

■ Die Opposition sieht Chancen für eine Regierung ohne LDP

Tokio (taz) – Werden sich die Abgeordneten der seit vierzig Jahren regierenden japanischen Liberaldemokraten (LDP) bald auf den Oppositionsstühlen einrichten müssen? Der gestern angekündigte Rücktritt von Partei- und Regierungschef Kiichi Miyazawa und die Äußerungen des Chefs der Neuen Partei Japans (JNP) haben die Chancen für einen Wechsel stark befördert.

Morihiro Hosokawa, dessen JNP bei den Wahlen am vergangenen Sonntag neu ins Parlament einzog, sprach sich erstmals für die Bildung einer Koalitionsregierung ohne die LDP aus. Seine konservative Partei kann als Zünglein an der Waage die Wahl zwischen einem Regierungschef aus den Reihen der LDP oder der Opposition entscheiden. Die Wende Hosokawas – die freilich erst den Beginn ernsthafter Koalitionsverhandlungen zwischen nun insgesamt sieben Oppositionsparteien einläutet – kam überraschend: Gilt der ehemalige Parteigänger der LDP doch als Aristokratensohn, der für politische Abenteuer wenig übrig hat. Also eigentlich ein idealer Koalitionspartner der Regierungspartei. Erst nachdem Hosokawas frischgewählte Abgeordnetengruppe im Parlament am Mittwoch zusammentrat, und viele ihrer – meist sehr jungen – Angehörigen dringend von der Zusammenarbeit mit der LDP abrieten, drehte der Wind. Die übrigen Oppositionsparteien mit Ausnahme der Kommunisten, die sich schon vor den Wahlen auf ein Koalitionsbündnis geeinigt hatten, erkannten Hosokawas Zaudern: Blitzschnell lockten sie ihn mit der Aussicht auf den Posten des Regierungschefs.

Für dieses Amt hatte sich bis dahin der ehemalige Finanzminister Tsutomu Hata angeboten, der Chef der zweiten neuen Partei, der Erneuerungspartei (JRP).

Bislang schien eine Einigung der Anti-LDP-Kräfte unmöglich. Denn Hosokawa und der Generalsekretär der Erneuerungspartei – und maßgeblicher Stratege des neuen Koalitionsbündnisses – Ichiro Ozawa, sind sich seit ihren LDP-Zeiten nicht grün. Doch Ozawa ist nun zu allen Kompromissen bereit, um an die Macht zu kommen. Die neuen Parteien, meint er, können nur dann überleben, wenn sie die LDP augenblicklich ablösen und nach Möglichkeit weitere LDP-Überläufer in ihre Ränge aufnehmen.

Die Sozialdemokraten – Japans größte Oppositionspartei, die am Sonntag fast die Hälfte ihrer Parlamentsmandate verlor – wollen daraus vorerst nicht den Schluß ziehen, daß ihr Koalitionskurs linke Stammwähler vergraulte. Gestern erklärte das Zentralkomitee der Partei seine Unterstützung für die jetzige Parteispitze, welche tagszuvor „große Flexibilität“ bei den Verhandlungen mit anderen Oppositionsparteien angekündigt hatte. Im Kern geht es darum, daß die Sozialdemokraten bei einer Koalitionsvereinbarung ihre pazifistischen Prinzipien – den Armeeverzicht und die Opposition gegen japanische Blauhelmeinsätze – über Bord werfen.

Ein nicht weniger heftiger Prinzipienstreit aber hatte gestern die LDP eingeholt: Während einer Versammlung aller Parlamentarier und Präfektursvertreter der Partei stritten die Mitglieder mit unbekannter Heftigkeit über Sinn und Zweck einer LDP-Regierung. Der nach dem Verlust der absoluten Mehrheit bei den Wahlen erwartete Rücktritt von Premierminister Kiichi Miyazawa eröffnete jungen LDP-Angehörigen die Chance zum offenen Angriff auf die Parteiführung. „Die LDP muß sich darauf vorbereiten, die Macht aufzugeben“, rieten die Anführer einer 36köpfigen Gruppe junger LDP-Parlamentarier, die auf einen rascheren Generationswechsel in der Partei hoffen.

Schon erreichte ihr Protest, daß die Parteispitze gestern ihren Vorschlag für die Wahl eines neuen LDP-Chefs zurückziehen und in ein demokratisches Wahlverfahren einstimmen mußte. Danach ist völlig unklar, wer die Nachfolge Miyazawas antritt. LDP-Veteranen bezeichneten die gestrigen Vorgänge als „einmalig“ in der Parteigeschichte. „Die Tage sind vorbei, in denen die LDP-Senioren ihre Geschäfte alleine erledigen konnten“, kommentierte JRP- Chef Tsutomu Hata. Georg Blume

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