Bayern unterläuft die vom Bundesverfassungsgericht vorgeschriebene Anonymi- tätsregelung bei Schwangerschaftsberatungen: Wer den Schein für den Abbruch will, muß die Personalien hinterlassen. Von Julia Albrecht und Michaela Schießl

„Hier in Bayern ist das Vorschrift“

Ganz klammheimlich schiebt Schwangerschaftsberater Rohde einen zweiten Beratungszettel neben den ersten und überträgt den Namen auf das Duplikat. „Was machen Sie denn da“, fragt die Frau vor seinem Schreibtisch. Gerade hat sie das gesetzlich vorgeschriebene Beratungsgespräch ordnungsgemäß überstanden, die Voraussetzung, daß sie straffrei abtreiben darf.

Alles, was ihr noch fehlt, ist der Beratungsschein, den sie beim abtreibenden Arzt vorlegen muß. Eben jenen Schein, den der Berater gerade seelenruhig kopiert. Er will das Duplikat, ausgestattet mit Namen, Adresse, Geburtsdatum und Unterschrift der Schwangeren, im Gesundheitsamt behalten. „Hier in Bayern ist das Vorschrift“, sagt der sozialpädagogisch geschulte Mann. „Wenn Sie das nicht wollen, kann ich Ihnen den Beratungsschein nicht geben.“

Da staunt die Frau, da staunt auch Berthold Sommer, einer der acht Bundesverfassungsrichter, die am 28. Mai über die Neuregelung des Paragraphen 218 zu entscheiden hatten. „Das Zurückhalten der Personalien halte ich für schlecht vereinbar mit dem Motiv der anonymen Beratung. Der intendierten Offenheit der Beratung läuft das auf jeden Fall zuwider.“ Auch sein Amtskollege Konrad Kruis, der im Gegensatz zu Sommer für das Urteil gestimmt hat, zeigt sich überrascht von der bayerischen Variante: „Nach dem Urteil ist das nicht so gedacht. Die Beratung muß natürlich anonym erfolgen, das ist unabdingbar.“

Im Freistaat jedoch will man offenbar genau wissen, wer das Ungesetzliche begeht: In einem Schreiben vom 12. Juli 1993 wies das bayerische Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Gesundheit alle zugelassenen Beratungsstellen an, die gängige Praxis beizubehalten: Duplikate mit den Personalien einbehalten und per Unterschrift den Empfang quittieren lassen, lautet die Order aus München. „Damit sind wir seit 1978 gut gefahren“, sagt der Pressereferent, Regierungsdirektor Albert Limmer. „In Bayern gab es nie Probleme, Kritik kommt immer nur von außen.“

Tatsächlich besteht der Bayerntrick darin, sich nicht an die Sinnorientierung, sondern an den exakten Wortlaut des Urteils zu halten, wonach die Frau gegenüber ihrem Berater anonym bleiben darf. Kein Problem, beschlossen die findigen Freistaatler, soll die Frau ihre Personalien eben einem anderen Mitglied der Beratungsstelle aushändigen, das dafür sorgt, daß die beratende Person keinen Zugriff erhält – Urteil umgesetzt, Personalien einkassiert.

Eine zynische Auslegung dessen, was die Bundesverfassungsrichter mit ihrem Anonymitätsgebot als wesentlich definierten: die Inkognito-Beratung als Voraussetzung, daß die Schwangere frei und ohne Angst vor Enttarnung über ihre persönlichen Gründe sprechen kann. Im Urteil heißt es dazu: „Die Beratung muß, um erfolgreich sein zu können, darauf angelegt sein, daß die Frau sich an der Suche nach einer Lösung beteiligt. Dies rechtfertigt es auch, davon abzusehen, die erwartete Gesprächs- und Mitwirkungsbereitschaft der Frau zu erzwingen oder sie zu verpflichten, sich im Beratungsgespräch als Person zu identifizieren.“

So dürfen sich auch aus dem anzufertigenden Beratungsprotokoll keinerlei Rückschlüsse auf die Identität der Schwangeren ergeben. Es dient lediglich dazu, daß die staatlichen Stellen kontrollieren können, ob die Beratungsstellen im Sinne des Urteils agieren. Nur einmal, bei Ausstellung des Beratungsscheins, den die Frau an sich nimmt, muß ihre Identität kurz gelüftet werden; dann wird ihr Name – und nur ihr Name – eingetragen. Keine Adresse, kein Geburtsdatum. Und schon gar keine als Empfangsbestätigung getarnte Unterschrift.

Natürlich müht sich Bayern, den Eindruck zu verhindern, daß mit den Daten Mißbrauch getrieben wird. „Die anonymen Beratungsprotokolle und die Durchschläge der Beratungsbescheinigungen sind getrennt aufzubewahren und unter Verschluß zu halten“, heißt es im ministeriellen Schreiben. Wer das zu bezweifeln wagt, bleibt ohne Schein. „Sie müssen uns schon vertrauen“, teilt Rohde der Schwangeren mit, die unbedigt anonym bleiben will. Selbst, als die Frau das Urteil aus der Tasche zieht und die betreffende Stelle zitiert, gibt Rohde den Beratungsschein nicht heraus.

Ein einleuchtender Grund für seine Handlung fällt dem Berater des Lebens jedoch nicht ein. „Es ist halt Vorschrift.“ Immerhin erklärt er sich bereit, die Sache nochmals im Amt zu besprechen. Tags drauf sieht sich die in der siebten Woche Schwangere der geballten Beratungsmacht ausgeliefert: Rohde bleibt, wie alle seine Kollegen in bayerischen Beratungsstellen, auf Linie. „Ohne Personalien keinen Schein. Wir folgen unseren Vorgaben. Ob die dem Urteil widersprechen, können wir nicht beurteilen. Das müßte von höherer Stelle geklärt werden.“ Daß er, gemäß dem Urteil, nach erfolgreicher Beratung den Schein gar nicht verweigern darf, läßt den pflichtbewußten Konfliktberater kalt. Es sei nicht seine Aufgabe, die Rechtmäßigkeit seines Tun zu überprüfen. Das müsse die Frau schon selber machen. „Aber Sie in ihrer Situation sollten sich das überlegen. Schließlich haben Sie nicht mehr viel Zeit.“

„Ein klarer Fall von Nötigung“, urteilt Monika Frommel, Strafrechtsprofessorin und Direktorin des Kieler Instituts für Kriminologie. Sie empfiehlt der betroffenen Frau, einen Strafantrag zu stellen. „Nach dem Urteil darf die Ausgabe des Beratungsscheins auf keinen Fall daran gekoppelt werden, ob die Frau ihre Personalien preisgibt.“ Gerade der Zeitdruck, unter dem die Frau in ihrer Notlage steht, macht die bayerische Vorgehensweise zur Nötigung. Hinzu kommt das datenschutzrechtliche Problem: Selbst wenn die Frau ihre Identität preisgeben will, wer garantiert den verantwortlichen Umgang?

Eine Regelung hierzu gibt es bislang nicht, da das Urteil den Verbleib der Personendaten nicht vorsieht. „Darüber hat sich der zweite Senat bei seiner Entscheidung natürlich keine Gedanken gemacht“, sagt Bundesverfassungsrichter Klaus Winter. Für ihn steht allerdings fest: „Es ist ganz sicher nicht im Sinne des Urteils, wenn gegenüber der Verwaltungsstelle die Personalien offengelegt werden müssen.“

Der Problematik des Datenschutzes bei Schwangerschaftsberatungen werden sich in Kürze die Datenschutzbeauftragten der Länder widmen. „Solange jedoch gelten die Vorgaben des Urteils“, sagt Professor Winfried Hassemer, der den Bundestag im 218er-Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht vertrat und in Hessen über den Datenschutz wacht. „Die konkreten Voraussetzungen der Erforderlichkeit muß gewahrt werden. Erforderlich ist lediglich, daß die Frau zur Namensüberprüfung kurz ihre Identität preisgibt und den einzigen, mit ihrem Namen versehenen Schein mitnimmt.

Doch Bayern wartet mit einer abenteuerlichen Begründung für die Datensammlung auf: dem Schutz der Frau vor falschen Anschuldigungen. „Was ist, wenn die Frau nach der Abtreibung in eine Situation kommt, wo sie eine vorhergehende Beratung beweisen muß?“, fragt Pressereferent Albert Limmer. Heilfroh wird sie sein, wenn sie dann auf die Beratungsstelle zurückgreifen kann! Ein läppisches Argument. Gibt man der Frau zwei Scheine, einen zum Aufbewahren und einen für den Arzt, ist das Problem gelöst. Auch Datenschützer Hassemer kann der bayerischen Argumentation nichts abgewinnen: „Es gibt eine Menge Möglichkeiten, die vom Verfassungsgericht geforderte Anonymität der Frau zu bewahren und gleichwohl dokumentarische Interessen zufriedenzustellen.“

Vollkommen untauglich ist Limmers Argument Nummer zwei: Der abtreibende Arzt soll sich bei der Beratungsstelle rückversichern können, um Scheinmißbrauch, etwa durch Fälschung, vorzubeugen. „Datenschutzrechtlich absolut unzulässig“, urteilt Strafrechtlerin Monika Frommel. Unterstützt wird sie von Eva Zattler von Pro Familia München: „Wir dürfen und würden niemals Daten an Dritte weitergeben. Was glauben Sie, wie viele Männer täglich anrufen, um nachzufragen, ob ihre Frau hier war.“

Kämpferisch klingen die Worte von Eva Zattler, und in der Tat wird es langsam Zeit, daß sich die liberale Sexualberatungsstelle der Frage stellt, wie mit der Anonymität bei Schwangerschaftsberatungen umgegangen wird. Bis jetzt noch praktizieren sie genauso wie alle anderen Beratungsstellen nach den umstrittenen Vorgaben der Landesregierung. Erst aufgrund der taz-Recherchen beschloß das Münchener Team am Mittwoch, in dieser Sache einen Anwalt zu beauftragen. „Läuft die gängige Praxis in Bayern dem Urteil zuwider, so werden wir uns weigern, weiterhin Personalien abzufordern“, verspricht Eva Zattler. Solange jedoch gilt für Schwangere in Bayern: Entweder her mit der Identität oder ab über die Grenze.