Das Ende einer multikulturellen Welt

■ Nicht nur der Krieg und die Politiker haben zur Zerstörung Jugoslawiens beigetragen. "Antinationalistische Intellektuelle" sind eine schweigende Minderheit geworden

Ob im ausländischen Exil oder im Schweigen zu Hause: die früher jugoslawisch genannten Künstler, Schriftsteller und Intellektuellen leben in dem Bewußtsein, daß ihnen nicht gelungen ist, das Auseinanderbrechen ihres Landes und den darauffolgenden Krieg zu verhindern. Sie waren nicht in der Lage, sich dem nationalistischen Haß und der Paranoia wirksam entgegenzustellen oder gar im Zusammenschluß eine demokratische Opposition zu bilden, die dem multikulturellen Ethos Jugoslawiens, wie sie es kannten, verpflichtet gewesen wäre. Wer den intellektuellen Exzessen der schlimmsten Kriegstreiber und -profiteure nicht glauben will, muß versuchen, sich und anderen das Geschehen zu erklären, demgegenüber man sich als so machtlos erwies.

Vor dem Krieg lag die Kulturhoheit in Jugoslawien bei den einzelnen Republiken. Jede hatte ihre eigene kulturelle Infrastruktur mit Verlagen, Filmproduktionsgesellschaften, Theatern, Festivals, Künstlervereinigungen, Akademien und Instituten, Radio- und Fernsehsendern. Die Politik war überall dieselbe, der Unterschied lag im Eifer, mit dem lokale Parteifunktionäre sie durchzusetzen versuchten.

In den siebziger und achtziger Jahren wurden die Möglichkeiten für öffentliche Debatten und Dissens immer größer. Kritische Bücher, Theaterstücke und Filme, öffentliche Vorträge und Diskussionen gaben wichtige Impulse für eine intelligente und zunehmend scharfe Kritik des Regimes. Das Tabu der weniger ruhmreichen Kapitel in der Geschichte des Kommunismus wurde durch Literatur gebrochen. Sie war es, die damit auch die offizielle Schönfärberei exponierte und eine kritische Bewertung der alten Ideologie einläutete.

Zwar gab es in Jugoslawien keine Zensur im offiziellen Sinne, aber der Parteiapparat funktionierte natürlich trotzdem als heimliche Überwachungsinstanz, die sofort eingriff, wenn es allzu kritisch wurde. Mitglieder diverser Kulturorganisationen wurden dafür rekrutiert und sollten so die Gesellschaft als ganze vor unliebsamen Gedanken schützen. Auf diese Weise sparte man sich die Interventionen von oben und konnte sich auf eine Selbstregulierung verlassen, die anscheinend aus den Organisationen selbst kam. Die meisten Interventionen dieser Art erfolgten ohne viel Aufhebens. Direkte Einmischungen von Politikern dagegen führten zu direkten Konfrontationen mit betroffenen Schriftstellern oder Künstlern und sogar zu Klagen vor Gericht. Man erkannte schnell, daß dies nur den gegenteiligen Effekt hatte und dem umstrittenen Werk nur noch mehr Öffentlichkeit verschaffte – und den Politikern den Vorwurf des Stalinismus.

Trotz vieler Restriktionen und einiger häßlicher Ereignisse waren ethnische und linguistische Gleichheit und der Schutz minoritärer Kulturen mehr als nur Papier. Albanien, das seit 1981 systematischer Diskriminierung ausgesetzt wurde, war die Ausnahme. Im großen und ganzen jedoch war das kulturelle Leben Jugoslawiens lebendig und dynamisch und gekennzeichnet vom lebhaften Austausch über Grenzen und Sprachen hinweg. Künstler und Intellektuelle konnten in der Regel Rivalitäten zwischen Republiken – oder gar einzelnen Städten – für sich ausnutzen; die Bürokraten waren oft mehr daran interessiert, ihre eigene Position in der regionalen Kultur auszubauen als irgendwelchen panjugoslawischen Aktivitäten auf die Beine zu helfen. Wenn also ein Buch vielleicht hier verboten wurde, konnte es dort publiziert werden; ein Theaterstück, das in Vojvodina unter Druck kam, konnte in Belgrad – beides serbische Städte – gespielt werden und schließlich sogar einen Preis auf einem Theaterfestival in Slowenien gewinnen. Bis 1987 war Sarajevo unter der Fuchtel einer rigiden poststalinistischen Parteibürokratie – die Künstler jedoch konnten ausweichen in das liberalere Klima nach Belgrad oder Zagreb.

Die Versuche der einzelnen Republiken, ihre eigenen, nationalen Kulturgrenzen zu zementieren, konnten den ständigen Austausch von Menschen, Ideen und gemeinsamen Projekten in ganz Jugoslawien nicht verhindern. Vor allem in den letzten zwanzig Jahren war die jugoslawische Identität in erster Linie kulturell definiert, charakterisiert durch Offenheit, Pluralität und gegenseitige Neugier. Zum großen Teil fand dieser permanente Austausch auf inoffizieller Ebene und ohne finanzielle Unterstützung von Regional- und Bundesbehörden statt. Kulturgelder wurden mit Vorliebe von regionalen Parteibürokraten für grandiose Projekte ausgegeben, die vor allem ihren Status gegenüber dem ihrer Kollegen in den anderen Republiken aufwerten sollten. Mit Geldern aus zentraler Kasse förderte man gerne „jugoslawische“ Kulturfestivals, die in Wirklichkeit jedoch eifersüchtig als „nationale“ Ereignisse verzeichnet und gefeiert wurden.

Das Sommerfestival von Dubrovnik war bereits in den siebziger Jahren zu einer ausschließlich kroatischen Affäre geworden. Das zeigte sich nicht nur auf organisatorischer Ebene, sondern auch am Programm. Das jugoslawische Filmfestival von Pula, ebenfalls Kroatien, hielt seine Fassade etwas länger aufrecht. Die Kosten für das jugoslawische Theaterfestival in Novi Sad (Voivodina in Serbien) mußten sechs Republiken und zwei autonome Provinzen gemeinsam aufbringen. Während die anderen oft nicht mehr zahlten, finanzierte Voivodina unter großen Mühen alles selbst, nur um das prestigeträchtige Ereignis zu behalten. Bosnien schickte kein Geld nach Novi Sad und gab es nicht selten lieber für das eigene, großzügig ausgestattete Festival in Sarajevo aus.

Aber nicht nur Politiker waren verantwortlich für den Dammbau gegen den gesamtjugoslawischen Strom. Es gab immer eine nicht geringe Zahl von Intellektuellen und Künstlern, besonders Schriftstellern, die sich ausschließlich um ihre eigene nationale Kultur und Sprache und ihren Status in der multikulturellen Welt Jugoslawiens sorgten. Sie hatten ihre intellektuellen Wurzeln in der europäischen Moderne, und bereits in den sechziger Jahren opponierten sie gegen die poststalinistische Parteilinie. Im Laufe der siebziger und achtziger Jahre nahm ihre Feindseligkeit gegen alles Kommunistische noch zu, und ein selbstbewußter, zunehmend intoleranter Nationalismus, der sich feindselig von allen anderen Ethnien, Sprachen und Kulturen Jugoslawiens abgrenzte, wurde schließlich zum identitätsstiftenden Element ihrer Opposition zur Partei und ihrer Ideologie. Aus der Gegnerschaft zum Kommunismus wuchs keine Demokratie, vielmehr entwickelte sich ein streitsüchtiger, selbstmitleidiger Chauvinismus, der alle früheren Verbindungen zu Europa und zur Moderne leugnete und sich in einen kulturellen Konservatismus flüchtete, dessen Wurzeln in traditioneller, ländlicher Folklore liegen.

Nach Titos Tod 1980 besetzten diese nationalistischen Gruppierungen zuerst Schlüsselpositionen in jugoslawischen Instituten und Akademien, verschafften sich Mehrheiten und zerstörten sie schließlich von innen. Ihr Gerangel um den Schutz ihrer eigenen Position und der ihrer Republik gegen den Rest der Welt dominierte und zerstörte am Ende die jugoslawische Schriftstellervereinigung – was man im nachhinein als Ouvertüre zum Zusammenbruch ganz Jugoslawiens 1991 sehen kann. Die konstitutionelle Autonomie der Republiken und die Forderung, daß alle wichtigen Entscheidungen – einschließlich der über die Verfassung, die zum Hindernis für Veränderungen und Kompromisse geworden war – einstimmig zu sein haben, sicherte Jugoslawien, wie vorher der Schriftstellervereinigung, den Untergang. Nach dem Zusammenbruch der internen Gleichschaltung innerhalb der Partei war Einstimmigkeit zwischen den rivalisierenden Republiken zur Unmöglichkeit geworden. Die Parteibosse der einzelnen Republiken verfolgten ihre eigenen, nationalen Interessen unter rigorosem Ausschluß aller anderen.

Weder die relativ kleine Dissidentenbewegung noch die Liberalen innerhalb der Partei waren jetzt in der Lage, den Zerfallsprozeß aufzuhalten; weder bauten sie eine landesweite Opposition auf, noch hatten sie selbst eine kohärente Strategie für Reformen. Beide Gruppen ließen sich mehr und mehr in nationale Politik verwickeln und hielten sich mit säuerlichen Polemiken gegen Regimekritiker der jeweils anderen Republiken auf. Die meisten Intellektuellen jedoch, die das System kritisierten, bewegten sich vor allem weiter in seinem Rahmen – und überließen damit der militant-nationalistischen Opposition das Feld. Als kommunistische Überzeugungen immer kompromittierender wurden, ließen sich sowohl Liberale als auch Hardliner der Partei schließlich mehr und mehr mit den Nationalisten ein, um sich eine Position in der nachkommunistischen Ära zu sichern.

Als die alte Ordnung 1990 schließlich am Ende war, wurde die Formation neuer Parteien und Konkurrenten im Mehrparteiensystem in allen Republiken bereits von nationalistischen Gruppierungen dominiert – samt ihrer neugewonnenen Mitglieder aus der alten kommunistischen Elite. Ihre Programme waren äußerst großzügig – sowohl im Versprechen als im Behaupten. Revanchistisch im Geiste gossen sie Öl ins Feuer gegenseitigen Mißtrauens und nationalistischer Feindseligkeit. Die Unterdrückung der Albaner im Kosovo durch Serbien und der Zusammenbruch des politischen und wirtschaftlichen Systems unterstützte die nationalistische Stimmung in Serbien, was wiederum zu reaktionären Nationalismen in Slowenien und Kroatien führte, ihrerseits kopiert in Mazedonien und Montenegro. In Bosnien näherte sich die heikle Balance zwischen Serben, Kroaten und Muslims derweil dem Zusammenbruch.

Die Liberalisierung der Ökonomie 1989 und 1990 und damit die potentiellen Erfolge der Marktwirtschaft kamen zu spät, um eine sich ständig verschlechternde wirtschaftliche Situation noch zu retten. Das Anwachsen der Arbeitslosigkeit bei gleichzeitig drohendem Verlust sozialer Sicherheiten spielte den Nationalisten in die Hände. Aus Angst, nach den anstehenden Reformen womöglich mehr zu verlieren als zu gewinnen, votierten die ärmeren und ländlichen Schichten, schlecht bezahlte Angestellte der alten Staatsunternehmen, untere Parteifunktionäre und Rentner, in überwältigender Zahl für die Nationalisten, die daraufhin in den ersten freien Wahlen der Republiken 1990 triumphierten. Obsessiv mit einer, wie sie meinten, sich rapide verschlechternden Situation beschäftigt, hatten sie wenig übrig für liberale Demokratie, Pluralismus und Pressefreiheit.

Die Wahlen brachten in Slowenien und Kroatien Repräsentanten der neuen politischen Elite an die Macht, in Serbien und Montenegro die alte Garde und in Bosnien-Herzegowina und Mazedonien wenig stabile Allianzen. Allen gemeinsam war ihre Unfähigkeit zum Kompromiß, ein fanatischer Nationalismus und großartige Versprechungen auf Erlösung, die sie vor den Wahlen gemacht hatten. Zusammengenommen bereitete dies den Boden für die kommende Katastrophe.

Die Intellektuellen unterdessen konnten nicht nur den Aufstieg der Ethnizität als wichtigsten Wert der Republiken nicht verhindern, sondern sie trugen zur Umwertung sogar aktiv bei. Je stärker ethnische Zugehörigkeit zum Grundstein der neuen Republiken wurde, desto weniger wahrscheinlich wurden Toleranz und Pluralismus als Handlungsmaximen. Kultur verlor ihre Autonomie und kritische Rolle und wurde zum Werkzeug der neuen Ideologie – unter Politkommissaren, die schlimmer waren als in den schlechten alten Zeiten der fünfziger Jahre.

Antinationalistische Intellektuelle wurden zur schweigenden Minderheit, endgültig übertönt vom Pfeifen und Trompeten des Nationalismus und einer Rhetorik von Ausschluß und Haß. Der kulturelle Fluß zwischen den Republiken versiegte, Tourneen, Besuche und gegenseitige Einladungen wurden selten und sogar gefährlich, je feindseliger die Republiken wurden und schließlich jede Verbindung miteinander abbrachen.

Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle waren in ihrem zerfallenden Land in die Isolation geraten: Flugverbindungen, Straßen- und Schienenverkehr, selbst Telefonverbindungen wurden eingestellt. Die hysterische Beschäftigung mit dem Krieg – als aktiv Beteiligter oder in Auseinandersetzung mit seiner Politik, vor einem begeisterten Publikum zelebriert – ersetzte neue Werke, ihre Veröffentlichung und Kritik. Alle Nachfolgestaaten Jugoslawiens sahen Kunst ausnahmslos als Propagandamittel im Dienst des jeweils eigenen Nationalismus. Die Säuberungen in den kulturellen Institutionen waren gründlich: unabhängige Stimmen und „ethnisch unsichere Kantonisten“ wurden entlassen, andere gingen ins innere Exil und begannen ihr langes Schweigen, mancher floh oder wurde ins Ausland getrieben. Damit war denjenigen das Feld überlassen, die den richtigen ethnischen Hintergrund hatten und mit den entsprechenden Nationalgefühlen aufwarten konnten. Militant nationalistische Gruppen artikulierten, unterstützt von den Medien, die neue kulturelle Ideologie der ethnischen Reinheit und Stammessolidarität... Ehemals glühende Kommunisten wurden zu extremen Nationalisten und griffen zusammen mit antikommunistischen Traditionalisten erst Ideen, dann Personen an und verbrannten gar Bibliotheken „unpassender“ Bücher. Jeder Freiraum für Experimente und Debatten verschwand.

Kulturelle Aktivitäten im Krieg zu finanzieren war kein so großes Problem: die neue Schicht der Kriegsprofiteure konnte schmutziges Geld mittels Sponsorendeals „waschen“, die ihnen zudem noch eine Reputation als Freunde der Kunst einbrachten. Und obwohl der Krieg die Anzahl der Veranstaltungen eingeschränkt hat, ist Kultur gleichzeitig zur beliebtesten Flucht vor den täglichen Schrecken des Krieges und der Politik geworden. Die Besucherzahlen der Belgrader Theater sind hochgeschnellt, selbst in Sarajevo, der belagerten Hölle, werden Ausstellungen, Konzerte und Theateraufführungen in Kellern abgehalten, zum Beispiel Aufführungen der amerikanischen Musicals „Hair“, „Our Town“ und „Hotel Europa“.

Wie auch in den Medien sind unabhängige, inoffizielle Stimmen dabei rar. Antinationalistische Künstler und Intellektuelle sind eine verängstigte schweigende Minderheit geworden, bedacht mit Etiketten wie „Jugo-Nostalgiker“ und „Jugo-Zombies“; Öffentlichkeit ist ihnen nahezu völlig verwehrt, ihre Werke werden für nichtig erklärt, bezahlte Jobs sind selten geworden. Daß aufgrund der internationalen Sanktionen der UN auch der Strom von ausländischen Publikationen einschließlich Lehrmitteln versiegt ist, hat ihre Isolation noch verstärkt. Der intellektuelle Exodus ist enorm!

Bis zum Ende der Kämpfe muß jede Zukunftsperspektive düster bleiben. Sobald jedoch aufgrund internationaler Interventionen oder aus purer Erschöpfung die Kämpfe einmal aufgehört haben, wird Kultur eine entscheidende Rolle beim Wiederaufbau nach dem Krieg und im Heilungsprozeß der Menschen spielen. Wie am Ende die Grenzen auch gezogen werden, entscheidend ist, daß man wieder als Nachbarn über sie hinweg kommunizieren kann. Der alte Multikulturalismus ist tot, solange die ethnische Zugehörigkeit einziges Kriterium von Staatsangehörigkeit und Bürgerrecht ist. Die demographischen Veränderungen, die durch ethnische Säuberungen und Flucht entstanden sind, haben die alte kulturelle Pluralität vieler Regionen vermutlich für immer zerstört.

Die jungen Intellektuellen, die vor der Mobilmachung geflüchtet sind und die Kinder, die dort blieben und aufwuchsen, im Krieg, mit seinem Haß und seiner Intoleranz, mit einer verhetzenden Propaganda, die als Erziehung gilt: sie sind eine verlorene Generation. Das Buch, das vom Schmerz und Verlust dieser Zeit erzählen kann, und das Theater, das ein kollektives Bewußtsein darüber neu erschaffen könnte, wird wohl noch lange nicht geschrieben werden.

Dragan Klaic war Professor an der Universität der Künste in Belgrad. Er lebt heute in Amsterdam und ist Direktor des Theaterinstituts der Niederlande.