: Sehenden Auges in die Katastrophe
■ Der Selbstmord in Plötzensee vor vier Wochen hätte verhindert werden können
Freitag abend vor vier Wochen fand eine Gefängniswärterin Nazmieh Chahrour erhängt in ihrer Zelle in Plötzensee. Der herbeigerufene Notarzt konnte nicht mehr helfen. Der Tod der 23jährigen war schnell festgestellt. Dann war aber erst einmal Schweigen angesagt, bis am folgenden Montag die Pressestelle der Senatsverwaltung für Justiz eine dürre Pressemitteilung herausgab, daß sich in Plötzensee eine Libanesin umgebracht habe – vermutlich aus Angst vor der drohenden Abschiebung.
Verschwiegen wurde dabei wohlweislich, daß sich die Katastrophe für alle Beteiligten schon lange vorher angekündigt hatte: Nazmieh Chahrour hatte auch gegenüber dem Gefängnispersonal immer wieder betont, daß sie nicht in den Libanon abgeschoben werden wolle, weil sie dort keine Familienangehörigen mehr habe. Zeitweilig war sie als suizidgefährdet eingestuft gewesen und hatte unter besonderer Überwachung gestanden. Weder die Anstaltsleitung in Plötzensee, noch die Ausländerbehörde bemühten sich jedoch ernsthaft, den fast abzusehenden Selbstmord zu verhindern.
Außerdem war die 23jährige Nazmieh Chahrour nicht, wie behauptet wurde, Libanesin, sondern staatenlose Palästinenserin. Sie besaß keinen Paß, hatte auch sonst kein gültiges Ausweispapier und hätte somit – zumindest zum Zeitpunkt ihres Todes – gar nicht in den Libanon abgeschoben werden können.
In Beirut geboren, lebte Nazmieh Chahrour zusammen mit ihrer Familie seit ihrem fünften Lebensjahr in Berlin. Ab dem Zeitpunkt ihres 18. Geburtstages verbrachte sie allerdings die meiste Zeit hinter Gittern in der JVA Plötzensee. Der Grund: Raub- und Diebstahlsdelikte, die von Justiz und Polizei schnell als Beschaffungsdelikte eingeordnet wurden: Nazmieh Chahrour war drogenabhängig und beging die ihr zur Last gelegten Straftaten hauptsächlich, um ihren eigenen Drogenkonsum zu finanzieren. Nachdem sie einen ersten Versuch, von den Drogen wegzukommen, nicht durchgestanden hatte, sah es für sie bei der zweiten Verurteilung 1992 dann düster aus: Die Ausländerbehörde entzog ihr die Aufenthaltserlaubnis und verfügte die Ausweisung, „da von dieser Frau eine so große Gefahr ausgeht, daß es im Interesse der Bundesrepublik Deutschland liegt, ihren Aufenthalt hier zu beenden“ – so Ulrich von Chamier, der Leiter der Ausländerbehörde. Abgeschoben werden sollte Nazmieh Chahrour in den Libanon, der ihr einst ein Reisedokument für Palästinaflüchtlinge, ein sogenanntes „Document de Voyage“ ausgestellt hatte. Mittlerweile war es längst abgelaufen und unverlängerbar, aber allein durch die einmalige Ausstellung dieses Papiers war der Libanon völkerrechtlich verpflichtet, Nazmieh Chahrour im Falle eine Falles auch wieder einreisen zu lassen. Hinter ihrem Rücken beantragte die Ausländerbehörde letztes Jahr deswegen die Neuausstellung des Dokuments bei der libanesischen Botschaft in Bonn.
Nazmieh Chahrours Anwältin Andrea Würdinger hatte Widerspruch gegen die Ausweisungsverfügung beim Verwaltungsgericht eingelegt und bemühte sich zusammen mit einer Drogenberaterin um einen Therapieplatz für ihre Mandantin. Im Februar dieses Jahres erhielt sie schließlich auch eine Zusage und beantragte – ganz im Sinne des Programms „Therapie statt Strafe“ – nach § 35 des Betäubungsmittelgesetzes die Zurückstellung der Strafvollstreckung. Die Staatsanwaltschaft aber lehnte mit dem Hinweis auf die Ausweisungsverfügung die Entlassung in die Therapie ab. Die Ausländerbehörde wiederum war nicht bereit, von der Ausweisungsverfügung abzurücken, ohne Nazmieh Chahrour in der Therapie zu wissen.
Ein Teufelskreis, bei dem sich die Behörden gegenseitig die Schuld in die Schuhe schieben – auf Kosten der unmittelbar Betroffenen. Anwältin Andrea Würdinger will nun an Justizsenatorin Jutta Limbach schreiben, auf daß bei vergleichbaren Fällen in Zukunft eine Lösung gefunden wird, bevor es zu spät ist. Annette Deist
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