Auf der Spur der Deutschen

Wie das Fernsehen zu einem neuen Nationalismus im Sport beiträgt  ■ Von Gunter Gebauer

Der Rekord, der die Olympischen Spiele in Barcelona am stärksten prägte, war die Zahl der für die Fernsehübertragung eingesetzten Kameras: 578. Noch nie wurde auch nur entfernt so viel Technik eingesetzt, um ein Sportspektakel zu produzieren. Ob der technische Fortschritt bei der Herstellung dieser Ereignisse im Medium Fernsehen wirklich dem Sport und den Zuschauern zugute kommt, ist eine offene Frage. Im Olympiastadion von Rom (1960) verfügte das Fernsehen über 50 Kameras, 1972 in München waren es 98. Trotz der im Vergleich zu heute erbärmlichen technischen Ausrüstung sind diese Olympischen Spiele als großartige Wettkämpfe in Erinnerung geblieben.

In Barcelona sollte der hohe Aufwand für die Fernsehübertragung, motiviert durch die hohen Kosten der Rechte, eine neue Dimension des Sports erschließen, mit noch nie gesehenen Bildern, Visionen und Impressionen. Neben einer rasanten, jeden Erfahrungshorizont sprengenden Dramatik und dem dadurch ausgelösten Gefühl einer zunehmenden Unwirklichkeit der Ereignisse öffnete sich für den Fernsehzuschauer tatsächlich eine Dimension des Sports, nicht weniger hyperreal als die Ereignisse, aber der technische Fortschritt wurde für einen Rückgriff auf nationalistische Ideologien benutzt.

Nach der bisher üblichen Praxis unterstellte sich die Regie dem übertragenen Ereignis: Sie respektierte seinen Ort und seine Zeit. Für die Darstellung war vor allem die zeitliche Folge der Handlungen absolut verbindlich. Die Dramatisierung von Zeit, die der Sport selbst bewirkt, wurde vom Fernsehen weitgehend übernommen. Trotz Einblendungen, Schnitten, Rückblenden war die Dramaturgie der TV-Übertragung im Kern aristotelisch (H. Seifart). Im Raum des Olympiastadions folgte die Regie mit ihren Kameras einem Wettbewerb – sie zeigte alle Protagonisten, den Verlauf des Wettkampfs, das Erreichen des Ziels. Nach dem neuen Darstellungsprinzip wird nicht einmal das mindeste Erfordernis dieser Dramatik beachtet: daß ein Ereignis ganz, also bis zu seinem Ende gezeigt wird. Zwar wurde in den letzten Jahren die klassische Dramaturgie ausgehöhlt durch eine Regie, die sich mit abgerissenen Bildfolgen, hin- und herspringenden Perspektiven, Superzeitlupen und extravaganten Kamerapositionen zunehmend zur Geltung brachte, dies aber weitgehend im Interesse einer Steigerung des Ereignisses. Der Fernsehzuschauer wurde immer noch darüber informiert, wie ein Wettkampf geschah. Der Sport behielt sein eigenes Recht, insofern sein Ablauf in Raum und Zeit respektiert wurde.

Nationalistische TV-Dramaturgie

Die neue Darstellungsform hat mit der aristotelischen Dramaturgie endgültig gebrochen. Es ist vorbei mit den drei Einheiten von Ort, Zeit und Handlung: Kaum hat man die Wettkämpfer identifiziert und ihr Rennkalkül entschlüsselt, kaum ist man von den Rhythmen des Geschehens erfaßt, kündigt eine Stimme an, daß die Übertragung abgebrochen und an einen ganz anderen Ort, zu einer ganz anderen Sportart umgeschaltet wird – weil dort ein Deutscher gerade Medaillenchancen hat. Es wird rücksichtslos gewechselt, von den Läufern zu den Pferden, hier fährt ein deutsches Rad als erstes über den Zielstrich, dort boxt einer, scheinbar ist alles durcheinander, aber alles geschieht entlang einem roten Faden: für Deutschland. Der am Sport interessierte Zuschauer wird, ob er will oder nicht, zu einem Schlachtenbummler gemacht, er muß mit zum nächsten Schauplatz, zum höheren Nutzen des deutschen Medaillenspiegels.

Kein Zweifel, die Olympia- Übertragung des Fernsehens hat eine grundlegende qualitative Veränderung gebracht. Niemand sitzt hier in der ersten Reihe, denn es gibt keine festen Sitzplätze mehr. Alle Zuschauer sind in Bewegung: auf der Spur der Deutschen. Ohne erkennbare räumliche und zeitliche Konstruktion wird die Übertragung mit Hilfe einer anderen dramaturgischen Einheit konstruiert. Es entsteht eine Art Bilderbogen, der von der Regie nach Belieben umgeblättert wird, sobald irgendwo ein Deutscher ins Spiel kommt. Das neue Darstellungsprinzip, die neue Einheit ist der deutsche Nationalismus.

Schon frühere Olympia-Übertragungen transportierten ein gehöriges Quantum an Nationalismus. In Barcelona kam eine neue Technologie hinzu: die Selektion von Ausschnitten aus der Weltregie und die Anreicherung durch unilaterale Kameras der nationalen TV-Stationen – ein Fortschritt auf dem Weg zur Individualisierung der Programme, der aber nahezu ausschließlich für nationalistische Zwecke genutzt wurde. Das ist schon deswegen bemerkenswert, weil noch nie die Übertragungstechnik so international organisiert und der Sport so individualistisch betrieben wurde wie heute. Je weiter der Spielraum eines Fernsehsenders aufgrund technischer Verbesserung, desto größer der Nationalismus der Berichterstattung. So kann technischer Fortschritt zu emotionaler und intellektueller Regression auf scheinbar überholte Wahrnehmungsformen führen, die nichts mehr damit zu tun haben, wie die Athleten selbst ihren Sport sehen.

Die nationalistische Nutzung der TV-Übertragung aus Barcelona war keine deutsche Angelegenheit allein. Wer während der Olympischen Spiele in Spanien, England oder Dänemark war, konnte vergleichbare nationalistische Bilderbögen sehen, nur daß hier andere Serienhelden in andersfarbigen Trikots kämpften. Aber da die Athleten der Nachbarländer sportlich nur mäßig erfolgreich waren, liefen die nationalistischen Phantasieproduktionen im Verlauf der Olympischen Wochen auf die Sandbänke der Enttäuschung und der Langeweile.

Sport als Bühne der Nation

Ein solches Leerlaufen der Nationalgefühle gab es in Deutschland, jedenfalls in weiten Bereichen der Öffentlichkeit, nun gerade nicht. Das wahrhaft Erhabene des Fernsehspektakels war der Anblick einer Olympiamannschaft, die sich bereit machte, zu einer neuen Superpower aufzusteigen. Für Deutschland stand etwas ganz anderes und viel mehr auf dem Spiel als für die Nachbarländer. Die neue Olympiamannschaft sollte das neue Deutschland repräsentieren. An ihrem Handeln und ihren Erfolgen sollte gezeigt werden, wer „wir“ sind.

Daß der Sport zu einer Bühne gemacht wurde, auf der sich „das Deutsche“ darstellte, ist kein Zufall. Der größte Sportsponsor in Deutschland ist der Staat; er fördert nationale Sporterfolge durch bedeutende direkte und indirekte Zuschüsse, durch Sportstättenbau, Einstellung von Trainern, fiktive Arbeitsplätze, Freistellungen, Unterstützungen von Vereinen usw. Das Gesamtvolumen des nationalen Sportengagements liegt weit höher als die offiziell angegebene Zahl von 250 Millionen DM für 1992. Zur nationalen Sportförderung muß man auch die finanzielle Unterstützung durch die Firmen hinzuzählen, die „das Deutsche“ als Qualitätslabel verwenden. Wofür steht der Mercedes-Stern auf dem Trikot? Die Logik des Kommerzes und die Logik des Nationalismus treffen sich im Sport und bilden hier ein neues Register.

Man wird dem Sport nicht die Schuld an Rechtsradikalismus und Rassismus in Deutschland zuschieben können. Ihm ist seine besondere Rolle in einem Moment zugefallen, in dem alle wichtigen nationalen Repräsentanzen ausgefallen sind. Nationen sind – so sieht es die angelsächsische und französische Tradition – nichts anderes als Erfindungen, „wo es sie vorher nicht gab“ (E. Gellner). Wenn man sie mit Hilfe des körper- und erfolgsbestimmten Systems des Sports erfindet, entsteht besondere Brisanz.

In der Vergangenheit ist der Begriff der Nation über die deutsche Kultur hergestellt worden, durch die Gemeinsamkeit der Sprache, der Dichtung, durch die Universitäten und die Kirche. Kein einziger dieser Bereiche hat seit der Vereinigung wirklich funktioniert. Sie sind im Gegenteil Schauplätze scharfer Abgrenzungen geworden. Es bleibt die körperliche Welt des Sports. Sie wenigstens liefert positive, konkrete Repräsentationen des neuen Deutschlands. Siege werden gemeldet aus Disziplinen, in denen „wir“ bisher nicht mitgemischt haben (sondern nur der alte Konkurrent, die DDR). Die Olympia-Mannschaft, so wurde gemeldet, sei zusammengewachsen, es herrsche ein Gemeinschaftsgeist. Im Tischtennis kämpft ein „wiedervereinigtes Doppel“, der Kanusport (Ost) löst eine „Medaillenflut“ in Richtung Deutschland aus.

So erweist sich bei den Olympischen Spielen, was das gute Deutschland ist: Alle, die dabei sind, die dazugehören, Sportler wie Funktionäre und die mit ihnen vereinten Zuschauer, die ihnen von Wettbewerb zu Wettbewerb folgen. Man begreift die Logik dieser Zugehörigkeit, wenn man erkennt, was dabei ausgegrenzt wird. Die

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wichtigste Grenzziehung ist die gegenüber den Bösen unter den ehemaligen DDR-Sportlern. Einige von ihnen büßen stellvertretend für alle Sünden der Vergangenheit; sie bekommen alles angehängt, damit an der deutschen Mannschaft nichts hängenbleibt.

Es geht dabei nicht um eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Praktiken des DDR- Sports, sondern um Rituale der Reinwaschung und der Verdammung. Doping ist nicht das Kriterium für die Ausgrenzung – schließlich sind die maßgeblichen Fachdoper, Sportmediziner wie Trainer der ehemaligen DDR, wieder in hochdotierten Positionen. Das Leipziger Forschungsinstitut für Menschenmanipulation im Sport wurde, obwohl es nicht in die Strukturen der bundesdeutschen Wissenschaft paßt, mit großem Engagement des Innenministers am Leben gehalten.

Im Sport repräsentieren „Deutschland“ alle diejenigen, die Zugehörigkeit erhalten haben. Darunter die Alten und Belasteten, durch eine Art Taufe reingewaschen, und die Jungen, bisher Unbekannten, die geeignet sind, das Neue auszudrücken. Franziska van Almsick ist nicht nur als Schwimmtalent ein Glücksfall, sondern vor allem auch, weil niemand so recht weiß, ob sie aus dem Osten oder dem Westen kommt. Sie verköpert wie kaum eine andere das neue Deutschland.

Neben der Ausgrenzung der bösen Deutschen ist eine zweite Grenzziehung wirksam: gegenüber den Angehörigen anderer Nationen, die dank der TV-Technologie zu einer Minderheit werden. Wenn einer von ihnen gerade läuft, schwimmt, kämpft, dann kann weggeschaltet werden. Die Differenz zwischen Deutschen und Nichtdeutschen wird zum Prinzip der Fernsehwahrnehmung. Das Fernsehen ist ein ideales Medium, um Unterschiede zu zeigen; es liefert Bilder von Differenzen. Die Sportreportage lebt von Unterschieden aller Art, zwischen Siegern und Verlierern, Glück und Enttäuschung, Überlegenheit und Unterlegenheit. Indem sie die anderen als eine Minderheit ausgrenzt, zeigt sie, was „wir“ sind. Das Problem liegt im sinnlich-körperlichen Aufführungscharakter: Der in Medien der Körperlichkeit dargestellte Sport beglaubigt die neu entstandene Nation. In der nationalistischen Berichterstattung wird keine Gelegenheit ausgelassen, die Tüchtigkeit, den Willen und die Macht „unserer“ siegreichen Athleten auszumalen.

Vom Sport geht eine Gefahr aus, die man als „Naturalisierung“ bezeichnen kann: Die Differenzen und Gemeinsamkeiten, die der Sport herstellt, werden als körperliche, von der Natur gegebene Merkmale aufgefaßt. Die fiktiv erzeugten Differenzen des Nationalen werden auf einen natürlichen Besitz zurückgeführt. Diese Sichtweise ergibt sich keineswegs zwangsläufig. Aber bei dem Versuch, sportliche Erfolge zu erklären, gelangt man leicht zu der Behauptung der körperlichen Überlegenheit aufgrund nationaler oder sogar rassischer Merkmale. Mit dieser These benutzt man bereits Denkmuster eines positiv gewendeten Rassismus.

Warum sind schwarze Sportler so erfolgreich in den Lauf- und Sprungdisziplinen? Es scheint unausweichlich zu sein, diese Sporterfolge auf besondere körperliche Qualitäten, auf vererbbare Eigenschaften von Muskelfasern und Reaktionswegen zurückzuführen. Was man dabei vollkommen übersieht, ist der Druck der sozialen Selektion, der auf farbigen Spitzensportlern lastet. Begabte schwarze Jugendliche werden in großer Zahl durch die Verheißungen einer Sportkarriere dazu gebracht, ihre Lebenschancen einzig und allein im professionellen Sport zu suchen. Sie trainieren mit unglaublicher Härte und Bedingungslosigkeit, viel mehr als die meisten ihrer weißen Konkurrenten. Nach dem Prinzip des Alles oder Nichts spielen sie im Sport ihre einzige Karte aus. In der naturalistischen Perspektive erhält die Rasse – und mit der Nation ist es nicht anders – Eigenschaften der Substanz, die im Sport dramatisiert werden.

Gerade der durch reine Differenzen konstituierte Nationalismus, der sich kaum noch auf kulturelle Elemente stützt, kann von den körperlichen Gehalten des Sports angefüllt werden. Der Sport verleiht dem Nationalismus sinnliche Gestalt. Und der Nationalismus gibt dem entleerten Profisport wieder einen Sinn. So gesehen ermutigt der Sport Nationalismus, ja sogar Rassismus bei den Menschen, die es auf Abgrenzung von anderen abgesehen haben. Dies ist gewiß nicht die Absicht der Athleten und sicher auch nicht der für die Fernsehübertragung verantwortlichen Journalisten und Kameramänner. Es ist eine verführerische Rolle, in die der Sport seit der Vereinigung von West und Ost geraten ist, aber es gibt keine gefährlichere nationale Repräsentation als ihn. Die Symbolik sportlicher Siege wird leicht für bare Münze genommen: Aus der Identifizierung mit „unseren“ Sportlern werden Unterschiede gewonnen gegen alle diejenigen, die nicht „wir“ sind. Das neue Darstellungsprinzip des Fernsehens folgt den Deutschen durch die Räume und Zeiten, meidet die anderen Sportler, macht sie zu Fremden, die wenig interessieren. Der Sport ist zum kleinsten Nenner der nationalen Vereinigung geworden.