Vom Mißbrauch und anderen Affinitäten

„Berlin 2000 und die Olympischen Spiele von 1936“ – ein Colloquium im Martin-Gropius-Bau  ■ Von Hans-Hermann Kotte

Die Formel, daß die Olympischen Spiele in Berlin 1936 politisch „mißbraucht“ worden seien, erweist sich als besonders haltbar. Immer noch und immer wieder dient sie dazu, den Sport freizusprechen von der Mitverantwortung für die „gigantische Camouflage mit zynischen Elementen“ (Hans Mommsen), die 1936 von den Nationalsozialisten in Deutschland veranstaltet wurde. Auch für diejenigen, die zweite Olympische Spiele in Berlin zur Jahrtausendwende wollen, ist die Formel bequem: die „olympischen Ideale“ von Frieden, Völkerverständigung und der „Pluralität von Kulturen“, mit denen sie für das kommerzielle Spektakel werben, bleiben so rein und nutzbar.

Selten wurde die „Mißbrauch“- Formel so gut und vollständig auseinandergenommen wie vom Berliner Sportwissenschaftler Thomas Alkemeyer beim eintägigen Colloquium zum Thema 1936 am Freitag im Martin-Gropius-Bau. Weitere Referenten der Veranstaltung der Stiftung Topographie des Terrors waren der Bochumer Historiker Hans Mommsen, der Sportpolitiker Hams-Joachim Teichler (SPD) aus Bonn, Wolfgang Schäche von der TU Berlin und der Literaturwissenschaftler Eckhard Haack von der FU.

Alkemeyer plädierte in seinem Vortrag dafür, nicht die Augen zu verschließen „vor einer Fülle von Affinitäten und gemeinsamen Elementen in Olympismus und Nationalsozialismus“. Das „olympische Erbe“ sei 1936 „in den politisch- ideologischen Horizont des Dritten Reiches hineingearbeitet und der Inszenierung faschistischer Macht dienstbar gemacht“ worden. Zwar sei das Verhalten von Coubertin und Repräsentanten des internationalen und deutschen Sports dem Dritten Reich gegenüber vielfach untersucht worden, man müsse aber Spuren der Affinität auch „im Werk dieser Personen“ suchen. Über die bis heute andauernde Begeisterung des IOC hinaus seien sich 1936 „die olympische Bewegung und die nationalsozialistische Bewegung sehr nahe“ gewesen.

Die Olympischen Spiele, „Werbemittel“ Coubertins für sein „umfassendes pädagogisches Reformvorhaben“, waren laut Alkemeyer einerseits als eine „Gegenwelt zur Moderne“ konzipiert, andererseits stellten sie eine „Wiederverzauberung“ der Moderne dar. „Legt man die Deutungen des modernen Sports durch Coubertin zugrunde, dann kann man von einer systematischen Ästhetisierung der bürgerlichen Existenz sprechen.“ Solche Gegenläufigkeiten und Ungleichzeitigkeiten umfaßte auch der deutsche Faschismus.

Das „olympische Engagement des NS-Staats“, so Alkemeyer, sei deshalb so erfolgreich gewesen, „weil ideologische Tiefenstrukturen existierten, auf deren Schienen sowohl der Olympismus als auch der Nationalsozialismus fuhren: ein bio-politischer Ideologiehorizont, zusammengesetzt aus einer sozialdarwinistischen Auslegung von Geschichte und Gesellschaft, der Spiegelung kultureller Muster von Männlichkeit und Weiblichkeit im Horizont einer unwandelbaren Natur und die Vorstellung, den Sport als Gegenmittel gegen Dekadenz und Degeneration einsetzen zu können“. Alkemeyer schloß seinen Vortrag mit einer Bemerkung zum „Zusammenhang von schönem Schein und realer Gewalt“: Zur „Verschönerung“ des Berliner Stadtbildes habe damals auch „die sogenannte Auskämmung der öffentlichen Räume von Bettlern, Stadtstreichern, Homosexuellen sowie Sinti und Roma“ gehört. „Letztere pferchte man in einem Lager in Marzahn zusammen. Von hier wurden sie später nach Auschwitz transportiert.“

Der Sportwissenschaftler und sozialdemokratische Sportpolitiker Hans-Joachim Teichler, der die vergeblichen Bemühungen der Boykottbewegung und die „internationale Diskussion über die Olympischen Spiele von 1936“ darstellte, sprach von einer „faschistischen Phase in der IOC-Politik“. Führende IOC-Mitglieder hätten sich damals „in Grußadressen begeistert von Hitlers Antikommunismus und Antisemitismus“ gezeigt. Die 36er Spiele hätten wie kein anderes Ereignis den „Zusammenhang von Sport und Politik deutlich gemacht – nur das IOC hat sich dem verschlossen“. Wie begeistert der organisierte olympische Sport von den 36er Spielen war, so Teichler, habe auch die nochmalige Vergabe der (dann nicht durchgeführten) Winterspiele 1940 an Garmisch-Partenkirchen durch das IOC gezeigt. Dies sei „nach der Pogromnacht und nach der Zerschlagung des jüdischen Sports“ in Deutschland geschehen. Auch habe das IOC der „Kraft durch Freude“-(KdF)-Bewegung den „olympischen Pokal“ verliehen und Coubertin als Kandidaten für den Nobelpreis gegen Carl von Ossietzky aufgestellt.

Die innenpolitische Situation des Dritten Reiches im „Schlüsseljahr“ 1936, in dem die Weichen für den 2. Weltkrieg gestellt wurden, stellte der Historiker Hans Mommsen dar. Er präsentierte die These von den Olympischen Spielen als „Nachläufer“. Ähnlich wie die Bücherverbrennung sei Olympia für die Nazis „eigentlich nicht mehr nötig“ gewesen. 1936 habe das Dritte Reich seinen „Höhepunkt“ erreicht, außenpolitisch erfolgreich, wirtschaftlich in „allgemeiner Aufschwungeuphorie“. Hitler sei als „Wiederhersteller deutscher Souveränität“ und „Exponent einer Friedenspolitik“ gefeiert worden. Weil sie sich aber nun einmal für Olympia beworben hätten, seien die Nazis dabei geblieben. Und das, obwohl die Olympischen Spiele „quer zur Judenpolitik“ lagen und die „internationalistischen“ und „individualistischen“ Spiele ihnen eigentlich ideologisch nicht paßten. Motto: „Doppelt hält besser.“

Eindrucksvoll beschrieb Mommsen, welche Schwierigkeiten das Regime damit hatte, die „politischen Bedingungen für die Spiele zu garantieren“. So habe Hitler selbst eingreifen müssen, um „wilden Antisemitismus“ bei den Winterspielen 1936 in Garmisch Partenkirchen zu unterbinden. Den Parteigenossen sei der gesellschaftliche Umgang mit jüdischen Sportlern wieder erlaubt, antijüdische Schilder seien entfernt worden – allerdings nur an der Autobahn München-Garmisch, nicht an den Nebenstraßen. Die Konzessionen des Regimes, darunter die olympische Zulassung von zwei „Alibijuden“, sogenannten Halbjuden, seien allesamt sofort nach den Spielen aufgehoben worden. Die 36er Spiele, inszeniert als „Massen- und Kulturspektakel“, so der Bochumer Historiker, sei eine „faschistische Tradition, die zu einer internationalen wurde“.

Mommsen und Teichler machten klar, daß das Betrugsmanöver mit dem „billigenden Mitwissen des IOC“ durchgeführt worden sei. Statt auf der Einhaltung der olympischen Statuten zu bestehen, habe das IOC die internationale Boykottbewegung „desavouiert“. Möglichkeiten der „internationalen Intervention zur innenpolitischen Disziplinierung“ seien nicht genutzt worden. Für den Fall, daß die Spiele des Jahres 2000 am 23. September wieder nach Berlin vergeben werden, gab es zwei konkrete Forderungen.

Wolfgang Schäche von der TU beschrieb detailliert die Architektur des Olympiageländes, die Sport und „militanten Totenkult“ verband. Nach „jahrzehntelanger Verdrängung“ dürfe nun gerade nicht auf ein anderes Gelände ausgewichen werden, müsse eine Aufarbeitung durch „temporäre Veränderungen“ ermöglicht werden. Allerdings sei die angestrebte und vom IOC vorgeschriebene „Vollüberdachung“ des Olympiastadions „massiv abzulehnen“. Sie greife zu sehr in die räumlichen Strukturen ein.

Günter Morsch, Direktor der Gedenkstätte Sachsenhausen, wies in der Podiumsdiskussion darauf hin, daß „als Jesse Owens siegte, Sachsenhausen gebaut wurde“. Man solle im Hinblick auf das Jahr 2000 nicht nur an die Restaurierung von Olympiabauten, sondern auch an Sachsenhausen denken. Die „Stätten des Terrors“ dürften nicht verfallen.

Eine wichtige Frage wurde erst bei der Podiumsdiskussion so richtig aufgeworfen. Die Frage des „falschen Bewußtseins“, die Frage, warum selbst nazikritisch eingestellte Teilnehmer und Zuschauer der Spiele von 1936 diese später begeistert als „unpolitisches“ Ereignis rühmten. Das von der Berliner Sportwissenschaftlerin Gertrud Pfister skizzierte Problem nahm ihr Kollege Hajo Bernett aus Bonn auf. Er war als jugendlicher Zuschauer 1936 dabeigewesen. Er erinnere sich nicht Propaganda, sondern an den sachlichen „turnerischen Ernst“, mit dem er und seine Freunde die Wettbewerbe verfolgt hätten, sowie an „Vergnügungserlebnisse“.

In Alkemeyers Vortrag hatte es dazu geheißen: „Man hört immer wieder, die Menschen seien damals in erster Linie wegen des Interesses am Sport ins Stadion gezogen, nicht aber wegen der großen Gesten und der theatralisch inszenierten Gefühle. Eigentlich wird es aber an diesem Punkt erst richtig spannend: in der Frage nach der Einbindung des ganz Normalen in die faschistischen Inszenierungen der Macht.“ Spannend genug für weitere 36er-Kongresse?