Malen in russisch, Einkauf auf französisch

Seit einem Jahr arbeitet das Pilotprojekt Europa-Schule mit zwölf bilingualen Vorklassen / Die 400 Schüler sollen neben Deutsch fließend Englisch, Französisch und Russisch sprechen  ■ Von Barbara Steuart

„Außer ,Njet‘ kann ich ja noch nicht viel Russisch sprechen“, meinte Raymond Richter. Aber verstehen kann der Erstkläßler an der 21. Grundschule in Lichtenberg schon mehr. Als die Lehrerin die Klasse auffordert, abwechselnd den Pinsel und den Farbkasten hochzuheben, lüpft Raymond die Malutensilien befehlsgemäß. Am anderen Ende der Stadt, an der Märkischen Grundschule in Reinickendorf, spielen Kinder einkaufen – auf französisch. Sie werfen bunte Plastikfrüchte und Gemüse in den Einkaufskorb und lernen dabei die französischen Begriffe und dazu noch, wie man auf französisch zählt. Als ein Knirps sich in der Sprache vergreift und „Kartoffeln“ kauft, statt „Pommes de terre“, fragt die Lehrerin mit gespieltem Entsetzen: „Quoi?“

Läuft alles wie geplant, dann können die 400 Versuchskaninchen der „Staatlichen Europa- Schule Berlin“ bis zum Jahr 2000 neben Deutsch fließend Russisch, Französisch oder Englisch. Das ist zumindest das Ziel des zweisprachigen Pilotprojekts, das vor einem Jahr mit zwölf bilingualen Vorklassen startete. Das Experiment, in dieser Art einmalig an öffentlichen Schulen in Deutschland, soll es Kindern ermöglichen, spielerisch mit- und voneinander die jeweils andere Sprache zu lernen. Deutschsprachige Schüler drücken die Schulbank mit Kindern, die von Haus aus Englisch, Französisch oder Russisch reden. Zweisprachige LehrerInnen führen den Unterricht abwechselnd in deutsch und in der Partnersprache. Die Klasse teilt sich für einige Stunden, damit SchülerInnen in der Muttersprache lesen und schreiben lernen und Nachhilfe in der Fremdsprache bekommen.

Der frühe Start soll SchülerInnen solide Fremdsprachenkenntnisse vermitteln und später einen soliden Job sichern. Die meisten LehrerInnen von zweisprachigen Klassen und Eltern, deren Kinder an dem Programm teilnehmen, scheinen hellauf begeistert. „Es ist ein Traum“, meinte Erdmute Blach, 35, deren Sohn Johannes, 6, die 21. Grundschule besucht. Schulsenator Jürgen Klemann (CDU) preist das Projekt denn auch als „bildungspolitische Antwort auf ein zusammenwachsendes Europa“ und spannt es ein im Kampf gegen den Fremdenhaß: Wo Kinder verschiedener Kulturen gemeinsam die Schulbank teilen, „bleibt kein Platz für Vorurteile“ (O-Ton Klemann). „Ich halte das für so wichtig, gerade für deutsche Kinder, nach allem, was man so hört heutzutage“, sagte Raymonds Mutter, Sabine Franz, 31.

SprecherInnen der Berliner Lehrergewerkschaft, Elternvertretungen und der Grünen finden auch nichts Schlechtes an der Zielsetzung des Europa-Projekts. Viele fragen sich aber, warum Türkisch im Sprachangebot fehlt, wenn es wirklich um den Abbau von Fremdenhaß geht. Sybille Volkholz, bildungspolitische Sprecherin von Bündnis 90/Grüne, sieht die Europa-Schulen gar als „elitäre“ Pennen, die vor allem den gehobeneren CDU-WählerInnen zugute kämen. Andreas Ritter, Vorsitzender des Landeselternausschusses Berlins, meint, der Senat sollte lieber die maroden Schulen im ehemaligen Ostberlin aufmöbeln oder Oberschulklassen von bis zu 36 Schülern verkleinern.

Eine stadtweite Schulumfrage soll klären, ob genug Interesse besteht an einem türkischen oder spanischen Programm. Die Chancen zumindest für Türkisch stehen schlecht, sagte Europa-Schulen- Koordinator Dieter Witt. Zweisprachige Klassen funktionieren nur, wenn ungefähr die Hälfte der Schüler als Muttersprache Deutsch spricht und die andere Hälfte eine Partnersprache. Deutsche Eltern hätten jedoch bisher nur geringes Interesse für Türkisch gezeigt, sagte Witt. Dafür rennen sie den vier Schulen, die Englisch und Französisch anbieten, die Türen ein.

An den zwei deutsch-russischen Schulen in Ostberlin sieht es da anders aus. In Lichtenberg zum Beispiel mußten LehrerInnen viele deutsche Eltern erst von den Vorzügen des Russischlernens überzeugen. Es fehlt vor allem an russischsprechenden Kindern. Die meisten Soldaten in der ehemaligen russischen Hochburg Karlshorst sind abgezogen. Viele Umsiedler aus Rußland, die in Heimen in der Nähe der Schule wohnen, wollen, daß ihre Kinder erst einmal richtig Deutsch lernen. Otto Hering, 57, der mit seiner Familie erst im März aus Kasachstan aussiedelte und dessen zwei Enkelinnen den zweisprachigen Unterricht besuchen, ist da eher die Ausnahme. „Ich denke, je mehr Sprachen sie sprechen können, desto besser ist das.“ Gerade die Umsiedler zeigen, daß Europa-Schulen alles andere als elitär sind, so die Europa- Schule-Fans. „Europa-Eltern“ zeichneten sich nicht durch den prallen Geldbeutel, sondern durch ihr Interesse an Bildung aus.

Selbst Enthusiasten räumen ein, daß das Projekt nicht billig ist. Europa-Schulen brauchen mehr Klassenräume, mehr Bücher, aber vor allem mehr Lehrerstellen. Jede zweisprachige Klasse braucht eineinhalb LehrerInnen. Für die LehrerInnen bedeutet es auch mehr Arbeit. Sie müssen sich mehr mit KollegInnen absprechen und sich ständig darauf einstellen, auf zwei Gleisen zu fahren: Der Unterricht darf nicht zu anspruchslos für die MuttersprachlerInnen sein und nicht zu schwierig für die anderen. Da jeweils ungefähr die Hälfte der Kinder die Unterrichtssprache nicht voll beherrscht, arbeiten LehrerInnen viel mit Liedern, Bildern und Spielen. „Anschaulichkeit“, so Petra Hartig, die an der 21. Grundschule lehrt, „ist das A und O.“