■ Partikularismus und Kriseninterferenz in Deutschland
: Neue Köche braucht das Land

Die Bundesrepublik erlebt eine Interferenz von Krisenlagen. Da ist zum ersten die Rezession der Weltwirtschaft, die der stark exportabhängigen deutschen Wirtschaft zahlungsfähige Nachfrage abgegraben und die Kapazitätsauslastung der Schlüsselindustrien drastisch gesenkt hat. Nach dem Verpuffen der Wirkungen des per Kredit finanzierten Einheitsbooms im Gefolge des nachholenden Konsumismus der Neubundesbürger wurde die bundesdeutsche Ökonomie vom internationalen Abschwung erfaßt, in den die anderen OECD-Staaten bereits früher eingetreten sind.

Zum zweiten erleben wir eine ökonomische Einheitskrise, die sich in letzter Instanz der nur noch als dilettantisch zu charakterisierenden Transformationspolitik der Bundesregierung verdankt. Das Problem des noch für viele Jahre notwendigen Transfers von etwa fünf Prozent des Bruttosozialprodukts von West nach Ost harrt noch einer tragfähigen Lösung. Zum dritten dümpelt die deutsche Volkswirtschaft in einer Strukturkrise, die sich wiederum nationalen und globalen Faktoren verdankt. Die von neoliberalen Politprojekten in den achtziger Jahren eröffneten Möglichkeiten – im Wortsinne – grenzenloser Geldvermehrung haben die Geldvermögens- gegenüber der Produktionsdimension einseitig bevorzugt. Anstelle langfristig orientierter Investitionsvorhaben, die den für jede Exportnation unabdingbaren sektoralen Strukturwandel voranzutreiben vermögen, wurden spekulative Investments gefördert. Heute nun registriert die Öffentlichkeit mit Staunen, daß die deutsche Industrie hinsichtlich Qualitätsstandards, Produktivität, Effizienz und Marketing viel an Boden gegenüber ihrer alten wie auch neuen Konkurrenz verloren hat.

Magere Menüs, satte Küchenchefs

Diese ökonomische Verfettung wird, viertens, von einer manifesten Sklerose des politischen Systems begleitet. Ausdruck findet diese Sklerose vor allem in der Überforderung einer politischen Klasse (und der von ihr besetzten gesellschaftlichen Institutionen), die sich in dem von ihr selbst geschaffenen Dschungel partikularistischer Interessen nicht mehr bewegen, geschweige denn zu problemorientierten Entscheidungen kommen kann. Fünftens artikuliert sich heute eine Krise der Versicherungsgesellschaft, insoweit sich in rasantem Tempo die Schere öffnet zwischen allseitig wachsenden Versicherungsansprüchen der Gesellschaftsmitglieder und faktisch verfügbaren Versicherungsressourcen. Und sechstens schließlich treibt die Bundesrepublik hilflos in einer Orientierungskrise, seit die sinn- und identitätsstiftenden Schwarz-Weiß-Muster des Ost- West-Konflikts perdu sind.

In der allgegenwärtigen Gürtel- enger-schnallen-Debatte werden diese verschiedenen, wenn auch keineswegs voneinander unabhängigen Krisenlagen bemüht voneinander isoliert, um sie dann bei Bedarf munter miteinander zu vermischen. Jedes Partikularinteresse kocht sein eigenes Krisensüppchen und spuckt in die Suppe der anderen, wenn es seine eigene Mahlzeit gefährdet sieht. Wie nachgerade zynisch und perfide es ist, ausgerechnet die von der Zweidrittel- Gesellschaft längst Marginalisierten vermehrt auf Schmalkost zu setzen, wurde anläßlich der sozialen Schieflage des regierungsamtlichen Menüplans hinlänglich beklagt. Die jüngste Haushaltsdebatte hat freilich gezeigt, daß auch die lautesten Klageführer sich nicht in der Lage sehen, den Speiseplan radikal zu ändern und eine Vorstellung über völlig andere Ernährungsweisen zu liefern.

An Detailvorschlägen ist kein Mangel. Da wird etwa mit Recht darauf verwiesen, daß allein die Steuerprivilegien der Besserverdienenden sowie die mangels ausreichender Kontrollkapazitäten jährlichen Steuerausfälle mehr als 100 Milliarden Mark betragen. Oder es wird mit Recht ausgeführt, daß die deutsche Wirtschaft mit einem direkten und indirekten Subventionssegen von 130 Milliarden Mark per Jahr überschüttet wird, dessen struktur- und standortpolitische Sinnhaftigkeit unter dem Gesichtspunkt internationaler Wettbewerbsfähigkeit in hohem Maße zu bezweifeln ist. Im Zuge der Debatte um das Konzept der lean production wurde deutlich, daß die mittleren Ränge in Industrie und öffentlicher Verwaltung weit überbesetzt und überdotiert sind. Gewaltige Einsparpotentiale würden sich auftun, wenn das Beamtenprivileg überdacht und zeitgemäßen Beschäftigungsformen Platz machen würde. Einer Generalrevision bedarf das ganze System der sozialen Sicherheit, ist doch die Mehrheit dieser Institutionen auf die Normalarbeitsbiographie ausgerichtet, die sich heute und noch mehr in nächster Zukunft eher als Ausnahme denn als Regel einstellen wird. Das jüngst wieder in die Diskussion gekommene Bürgereinkommen, das eine Kombination aus Arbeits- und Sozialeinkommen vorsieht, könnte unter entsprechenden Rahmenbedingungen, die vor allem eine Instrumentalisierung seitens der Wirtschaft unterbinden, den Eckpfeiler einer solchen Reform darstellen. Unabdingbar freilich ist eine Neuorganisation der Allokation von Arbeit und Arbeitszeit, ist doch davon auszugehen, daß die Zeiten marktorientierter Vollbeschäftigung endgültig vorüber sind. Auch hierzu existieren Vorschläge in Hülle und Fülle.

Von gordischen Knoten und großen Designs

Es fehlt das große Design einer gesellschaftspolitischen Strategie, die über den Tellerrand aktueller und aktuellster Krisenlagen hinauszuweisen und anzugeben vermag, welche Schritte in welcher Richtung vorzunehmen sind. Für einen solchen Weg viel gewonnen wäre bereits, wenn es gelänge, klare Prioritäten zu setzen: An erster Stelle zu stehen hat die Installation eines langfristig angelegten Mechanismus zum Transfer von fünf Prozentpunkten BSP nach Ostdeutschland. Eine auf unbefristete Zeit angelegte und mit Einkommensuntergrenzen versehene Ergänzungsabgabe, die insbesondere Selbständige und Beamte erfaßt, muß ergänzt werden um ein Investitionshilfegesetz für Ostdeutschland. Ein solches strukturpolitisches Konzept muß zweitens ergänzt werden um eine ökologisch orientierte Reform des Steuersystems, die über eine Neugewichtung der steuerlichen Faktorbelastung Anreize und Zwänge für einen radikalen Strukturwandel der Wirtschaft schafft. Gleichsam en passant könnte auf diesem Wege die leidige Debatte um hohe Lohnkosten ad acta gelegt werden und dem Strukturproblem rückläufiger internationaler Wettbewerbsfähigkeit ein zukunftsmarktträchtiger Ausweg gewiesen werden.

Aufgelöst werden kann der gordische Knoten interferierender Krisenlagen allerdings nur, wenn drittens eine radikale Reform des politischen Systems im weiteren und des staatlichen Apparates im engeren Sinne in Angriff genommen wird. Erste Schritte dazu könnten der sofortige Rückzug parteipolitischer Repräsentanten aus allen privaten oder gesellschaftlichen Gremien wie Aufsichts- und Rundfunkräten etc. sowie die verbindliche Einführung zeitlich befristeter Mandate sein.

Gerade die Zerstörung von Macht- und Positionsrenten würde nicht nur enorme ökonomische Ressourcen freisetzen. Sie wäre vor allem ein Signal für einen Neuanfang, der gesellschaftlichen Optimismus freisetzen könnte. Kurt Hübner

Politikwissenschaftler an der FU Berlin