■ Zur CDU-Strategie im Wahljahr 94
: Die So-als-ob-Partei

Strategisch gesehen muß die CDU drei Probleme lösen, will sie die Bundestagswahl 1994 gewinnen. Die schwierigste Aufgabe besteht darin, ihre SympathisantInnen zum Wahlgang zu bewegen. Stärkste der beiden Großparteien wird, welcher die Mobilisierung der AnhängerInnen besser gelingt. Das zweite Problem ist, die durch Parteiidentifikation noch nicht stabilisierten ostdeutschen CDU- Wähler von 1990 wiederzugewinnen. Die Demoskopie der letzten Jahre signalisiert massive Enttäuschungen und Abwanderung. Gefahr droht nicht zuletzt aus einer belebten Zone von Wählerwanderungen: Rechtskonservative setzen die Union von außen unter Druck, sie wählen „Republikaner“ oder DVU/NPD.

Eine erfolgreiche Regierungspartei präsentiert ihre Bilanz und verspricht, mit Verbesserungen, das „Weiter so“. Die CDU dagegen versucht, durch ihre Themenwahl eine Abstimmung über die letzten vier Jahre zu verhindern. So gehen wir in einen Als-ob- Wahlkampf: als ob die CDU nicht regiert. Statt dessen Ablenkung und Re-Ideologisierung.

Geräuscharme Polarisierung

Mit der Parole des „Wirtschaftsstandortes Deutschland“ soll die Aufmerksamkeit von aktuellen Arbeitslosenzahlen, Verwerfungen, Verarmungen nach außen und auf ein noch unerbittlicheres Zukunftsszenario verlagert werden. Dabei wird die Sozialfrage radikal ökonomisiert. An der Bildungsfrage hat der Parteitag vorgeführt, wie eine konsequente Funktionalisierung aller gesellschaftlichen Bereiche auf die Norm von Weltmarktverträglichkeit aussehen könnte. Geißler sieht die CDU heute in einer „antisozialen Position“. Solche gnadenlose Ökonomisierung enthält einen, im christlichen Sinne unbarmherzigen Appell an verunsicherte, mittlere Arbeitnehmer-Schichten, sich selbst noch in Sicherheit zu bringen und nach unten abzugrenzen. Ökonomie pur, statt durch Zusätze – sozial, ökologisch – die notwendigen Einbindungen und Balancen herzustellen.

Innere Sicherheit ist das große Ablenkungsthema. Die nicht zu leugnende reale Bedrohung durch Kriminalität entspricht nicht dem noch schneller wachsenden Ausmaß der Ängste. Diese Schere wird durch einen Angst-Populismus weiter geöffnet. Einfache, die gesellschaftliche Ursachen ausblendende Lösungen fehlen, schnelle Erfolge werden ausbleiben. Das nach der Ausländer-/ Asyl-Frage zweitwichtigste Thema des Rechtsextremismus erhält durch diese symbolische Zuspitzung Segen und Legitimation der Großparteien. Einer der Leitsätze, den der neue Innenminister mitgebracht hat, lautet: eine Politik zu machen, der die Wähler der „Republikaner“ zustimmen können. Im Deutschlandlied heißt es in liberaler Tradition: „Einigkeit und Recht und Freiheit“, die CDU singt heute an dieser Stelle „Einigkeit und Recht und Ordnung“.

Die Frage weltweiter Bundeswehreinsätze läuft vor allem auf der Schiene außenpolitischer „Normalisierung“, zum Teil auch der Re-Nationalisierung, noch nicht aber als Sicherheitsfrage. Die globalen „Sicherheits“-Interessen einer starken Exportwirtschaft und kleinen Großmacht sind zwar schon in der Definitionsphase, es scheint aber, als gelten sie noch nicht als wahlkampfreif. Der starke Staat und die Lösung komplexer gesellschaftlicher Probleme durch aufgewertete staatliche Gewalt ist gemeinsame Grundmelodie.

Wertewandel von rechts, die Strategie der Re-Ideologisierung, soll seit den „kulturrevolutionären Umbrüchen der sechziger Jahre“ (Schäuble) verlorenes Terrain zurückgewinnen. Nicht die schützende und fürsorgende Orientierung des Wertkonservatismus wird herausgekehrt, sondern seine harte Seite: „Autorität“, „Pflicht“, „Dienen“, „Opfer“ – so die Schlüsselbegriffe in Schäubles Berliner Parteitagsrede. Glücklicherweise sind weder der Adenauer-Staat noch Preußen wieder herstellbar. Heute wissen wir: dieses Ideal einer spezifischen – schmaler werdenden – Wert- und Lebensstilgruppe, von denen es viele und sehr unterschiedliche gibt. Wegen seines unhaltbaren Allgemeinheitsanspruches kann man darin einen Versuch konservativer Re- Ideologisierung sehen, der eine ideologisch abgerüstete, postmodern modernisierte Linke nicht mehr als Ironie entgegensetzen kann – aber immerhin dies.

Diese Themenbereiche passen gut zu den Problem- und Zielgruppen der CDU. Die Strategie der Partei entwickelt sich aus dem üblichen Geschäft der Stimmenmaximierung, im Blick auf Stimmungen und Parteienkonkurrenz, mit den Zielen und Projektionen von Parteiakteuren, die ihr Angebot verschnüren müssen, bevor die WählerInnen darauf reagieren können. Gemessen an CDU-Positionen zu Zeiten, als Geißler Generalsekretär war, zeichnen sich die Umrisse einer Rechtsstrategie ab. Dazu gehören auch gemäßigte Varianten einer Re-Nationalisierung (Schäuble: „Rückbesinnung auf unsere nationale Identität“) und Re-Militarisierung. Beide werden wegen ihrer Ambivalenz die Wahlkämpfe aber nicht beherrschen. Die Schwerpunktsetzung entspricht auch dem Grundsatz: von den eigenen Stärken leben (mehrheitlich zugerechnete Wirtschafts- und Sicherheitskompetenz) und Schwächen ausblenden (bei der sozialen Kompetenzzuschreibung führt die SPD).

Die SPD als Sozialausschüsse der CDU?

Noch nie ist die Zweidrittelgesellschaft so offensiv propagiert worden in Deutschland. Kälte und Härte von Weltmarkt, Weltpolitik, starkem Staat und Re-Ideologisierung sind etwas anderes als die kollektive Anstrengung eines Programms von „Schweiß und Tränen“ – das 1990 ausblieb. Kohl pflegt seine teils gewollte, teils konstitutive Mehrdeutigkeit. Unterhalb seines Präsidialregimes ist die Arbeitsteilung nach rechts organisiert (Kanther, Heitmann, teilweise Schäuble), nach links fällt sie aus. Weder Modernisierer noch Sozialausschüsse oder Frauen haben heute Stimme oder Gewicht in der Partei. Geißler und Süssmuth sind isoliert, Blüm ist ins Abseits gestellt, Fink war eine spurenlose Episode. Nach der durch Scharping eingeleiteten „Christdemokratisierung der SPD“ (Geißler) ersetzt die SPD die Sozialausschüsse, die in der Union weitgehend ausgespielt haben. Scheitert die riskante Ökonomisierungs- Strategie der CDU, kann man die SPD in dieser Funktion in die Regierung aufnehmen.

Die Fragmentierung des deutschen Parteiensystems stellt auch die Großparteien unter Streß. Die themen- und richtungsprofilierten Kleinparteien gewinnen an Attraktivität und verschärfen die Integrationsprobleme der Großen. Kann eine Volkspartei erfolgreich sein, die sich im Richtungsspektrum profiliert und nicht auf Ausgleich setzt? Die Erfahrungen sprechen dagegen. Sind die Deutschen so weit nach rechts gewandert, daß die Partei gewinnt, die ihnen – in geräuscharmer Polarisierung – dorthin folgt? Noch bleibt dies spekulatives Kalkül, kein Marketingexperte oder Wahlforscher vermag hier Sicherheit anzubieten. Entschieden wird dies in politischen (Wahl-)Kämpfen. Joachim Raschke

Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Hamburg; siehe auch Antje Vollmer auf Seite 10 vom 21.9.