Eine Milliarde heiße Herzen grüßen

China bereitet sich auf die Entscheidung für Olympia 2000 vor / Kontrollierter Jubel geplant / Falls Peking leer ausgeht, befürchten die Behörden ausländerfeindliche Reaktionen  ■ Aus Peking Catherine Sampson

Was geschieht, wenn Peking heute den Zuschlag für die Austragung der Olympischen Spiele im Jahr 2000 erhält? In den letzten Tagen haben die Behörden in der chinesischen Hauptstadt hektische Anstrengungen unternommen, um sicherzustellen, daß die anschließenden Jubelfeiern nur unter strikter offizieller Überwachung stattfinden. Nachdem die Bevölkerung monatelang mit intensiver Propaganda bedacht wurde, die die Pekinger Olympiabewerbung zu einer Frage nationalen Stolzes erhob, zittern die Behörden nun davor, daß der Schuß nach hinten losgeht. Ob China den Zuschlag erhält oder nicht – die spontanen Reaktionen der StadtbewohnerInnen könnten, so fürchen sie, außer Kontrolle geraten.

Höhepunkt einer Reihe sorgsam orchestrierter Kundgebungen zur Unterstützung der Pekinger Bewerbung war die Zusammenkunft von 50.000 Menschen an der Großen Mauer am Dienstag. Spontane Versammlungen aber sind – seit den massenhaften Protesten im Zentrum der Stadt vor vier Jahren – verboten. Die Bevölkerung von Sidney ist aufgerufen, die ganze Nacht hindurchzufeiern, und wer in Manchester lebt, kann das Ergebnis auf großen Monitoren in den Straßen der Stadt erfahren. In Peking aber soll es nur einige Feiern geben, an denen teilnehmen darf, wer eine offizielle Einladung vorweisen kann.

Alle Regierungsbüros haben die Anweisung, rund um die Uhr besetzt zu sein, um auch Notfall- Rufe entgegennehmen zu können. Die Polizei und Streitkräfte sind auf Ärger vorbereitet. Zivilpolizisten kümmern sich besonders intensiv um die StudentInnen der Stadt, die die Demonstrationen des Jahres 1989 angeführt hatten.

Die Behörden fürchten, daß die Studenten einen Erfolg Pekings zum Anlaß nehmen könnten, Dampf abzulassen. Es könnte schwierig werden, spontane Kundgebungen zu unterbinden, wenn die Hauptstadt gerade gewonnen hat. Und wenn nicht? Für den Fall einer Niederlage Pekings könnte es, so heißt es, zu ausländerfeindlichen Reaktionen kommen, die sich von der antiamerikanischen Rhetorik der Regierung inspirieren lassen. Pekings verdeckte Ermittler sollen von überwachten StudentInnen gehört haben, daß diese zur US-Botschaft marschieren wollen, falls Peking den Zuschlag nicht erhält, sagen chinesische Funktionäre. Die StudentInnen planten, gegen die „Einmischung“ durch das US-Repräsentantenhaus zu protestieren, das die Pekinger Bewerbung verurteilt hat. Möglicherweise wird sich der Zorn vieler auch gegen die Menschenrechtsorganisationen richten, die immer wieder auf die weiterhin hohe Zahl politischer Gefangener in Gefängnissen und Arbeitslagern hingewiesen haben. So berichtete Asia Watch jüngst, daß es im Oktober eine neue Prozeßserie gegen Mitglieder verbotener politischer Gruppierungen und Gewerkschaften geben soll. KP- Chef Jiang Zemin hat versucht, den Eindruck zu erwecken, das China sich – wie immer es auch ausgehen wird – wie ein „Gentleman“ verhalten werde. So erklärte er einem ausländischen Staatsgast: „Im Sieg werden wir nicht stolz sein und in der Niederlage nicht beschämt.“ „Eine Milliarde heiße Herzen begrüßt die Olympiade“, verkündet ein offizieller Slogan. Tatsächlich scheinen jetzt viele Menschen von nationalem Feuer erfaßt zu sein. Peking hat jede öffentliche Opposition gegen die Bewerbung verboten. Doch hinter vorgehaltener Hand klagt mancher, China könne es sich nicht leisten, die Olympischen Spiele abzuhalten. Man werde sich wohl auf höhere Steuern und steigende Preise gefaßt machen müssen.

Der Regimekritiker Wei Jingsheng, der in der vergangenen Woche nach vierzehneinhalbjähriger Haft freigelassen wurde, hat seine Unterstützung für die Bewerbung geäußert, ebenso wie Wang Dan, ein ehemaliger Studentenführer der Demokratiebewegung von 1989. Wei hat dies damit begründet, daß die Olympischen Spiele Sache der Bevölkerung und nicht irgendwelcher Regierungen sei. Der 43jährige war nach seiner Freilassung eine Woche lang von der Polizei an einen zunächst unbekannten Ort gebracht worden und erst am Montag bei seiner Familie im Pekinger Westen aufgetaucht. Falls seine um sechs Monate vorgezogene Entlassung allerdings nur ein Schachzug von seiten der chinesischen Regierung sei, um ihre Bewerbungschancen zu verbessern, sei dies ein „dreckiger Zug“, sagte Wei am Montag. Er werde den Kampf für Demokratie nicht aufgeben, erklärte er weiter, allerdings dürfe er zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht politisch aktiv werden. Seine Bürgerrechte sind ihm auf drei weitere Jahre aberkannt worden. Auch Ex-Parteichef Zhao Ziyang, der seinen Job verlor, weil er gegen die Niederschlagung der Proteste von 1989 war, ist für Olympia. Zhao tauchte überraschend auf einem Pekinger Golfplatz auf, um einem Hongkonger Geschäftsmann dort mitzuteilen: „Die Olympischen Spiele im Jahr 2000 abzuhalten ist eine gute Sache für China – ich stehe voll dahinter.“