Die Macht der „föderalen Subjekte“

■ Das gegenwärtige Chaos ist nicht Folge einer Doppelherr- schaft, sondern die Doppelherrschaft ist Resultat des Chaos

Doppelherrschaft, so die allgemeine Sprachregelung, sei Schuld an der desolaten Situation der russischen „Macht“: Die Macht der Exekutive, repräsentiert durch die Hierarchie der von Boris Jelzin persönlich kooptierten Administratoren, und die Macht des Obersten Sowjets, hervorgegangen aus den ersten halbwegs freien Wahlen, blockierten sich gegenseitig. Abgesehen davon, daß das politische Bild, das auch die westliche Presse von diesen beiden Seiten zeichnet, ein schwarzweißes ist und bereits die Moskauer Wirklichkeit nicht erfaßt, zeigt sich bei genauerer Betrachtung im Lande selbst, daß auch die Grundannahme nicht stimmt: „polni bardak“, das totale Freudenhaus, wie es der Volksmund nennt, das Chaos in der russischen Föderation ist nicht das Resultat einer Doppelherrschaft, sondern die „Doppelherrschaft“ das Resultat des Chaos. Und dieses besteht in der konfliktträchtigen Dreierbeziehung zwischen den beiden Moskauer Macht-Fraktionen und der regionalen beziehungsweise örtlichen Nomenklatura.

Schon 1991 haben die autonomen Republiken im südsibirischen Raum ihre Souveränität einschließlich des Rechts auf eigene Außenhandelsbeziehungen für sich reklamiert. Andere „föderale Subjekte“ folgten. In der Regel wurden diese Forderungen von den obersten Sowjets der jeweiligen Gebiete erhoben. Die Gesetzeslage läßt sich kaum überschauen: In einigen Fällen widersprach die örtliche Administration als Statthalter Moskaus den Beschlüssen, in anderen Fällen relativierten die Sowjets selbst ihre Forderungen. Um sich der Mächtigen der Provinzen zu versichern, geben sich inziwschen Vertreter des Parlaments einerseits und Anhänger Jelzins andererseits die Klinke in die Hand – die einen bei den Vertretern der örtlichen Sowjets, die anderen bei der Verwaltung.

In den regionalen „knjanis“, Fürstentümern, wiederholen sich die Strukturen der Moskauer Doppelherrschaft, andererseits bildet die örtliche Nomenklatura eine gemeinsame Front gegen Moskau. Typisch dafür ist die Tagesordnung, mit der der oberste Nowosibirsker Sowjet Ende August seine erste Herbstsitzung eröffnete. Über die Budgethoheit hinaus erhoben Sowjet und örtlicher Administrator gemeinsam die Forderung an Moskau, in Zukunft die Landwirtschaft wieder mit zentralen Subventionen zu fördern. Nur so könne die durch die Preisfreigabe sich immer weiter öffnende Schere zwischen den Kosten für die Produktion landwirtschaftlicher Güter und ihrem Verkaufspreis aufgefangen werden. Das ist ein offener Angriff gegen Jelzins Politik.

Rußlands oberster Reformer hat einen gordischen Knoten zu lösen: Die Krise zwingt ihn, politische Preise für Brot, Fleisch, Milch und einige andere Grundnahrungsmittel zu halten, weil andernfalls die Bevölkerung der Städte rebelliert. Soll die Aufrechterhaltung des politischen Preises nicht weiter auf Kosten der Landwirtschaft gehen, ist das nur möglich, wenn die Regierung die Landwirtschaft subventioniert. Die notwendigen westlichen Kredite aber erhält Jelzin nur, wenn er sein „Schockprogramm“ fortsetzt, also die Subventionen kürzt und die Preise auch für landwirtschaftliche Produkte freigibt.

Die Lösung dieses Dilemmas läuft auf die Alternative hinaus: Für oder gegen eine Landreform, die nicht nur den Besitz von Grund und Boden, sondern auch seinen freien Verkauf verfassungsmäßig garantiert. Das ist die Frage, in der sich grundlegende Interessen zur Zeit unvereinbar gegenüberstehen: Jelzin hat sich für die Einführung dieses Grundrechtes ausgesprochen. Die patriotischen und neokommunistischen Kräfte dagegen beharren nicht zuletzt deswegen auf der alten Verfassung, weil sie das private Eigentum an Grund und Boden prinzipiell untersagt.

Bei den Vertretern der örtlichen Macht stoßen in dieser Frage Pro und Contra hart aufeinander: für Jelzins Verfassungsentwurf spricht in ihren Augen die Tatsache, daß die Entstaatlichung gleichbedeutend mit einer dezentralisierenden Umverteilung zu ihren Gunsten ist. Einer der Einwände gegen den Entwurf ist die damit verbundene Erweiterung der Rechte der Bürger.

Es spricht für den Realitätssinn von Jelzin, daß er sich zunehmend um das Bündnis mit den Ortsfürsten bemüht. Aufsehen erregte ein von ihm Ende August in Irkutak abseits der Öffentlichkeit zusammengerufener „kleiner Föderationsrat“, bei dem sich neben den örtlichen Administratoren die Chefs der örtlichen Sicherheitsministerien versammelten. Von der Opposition wurde dieser Schritt als „weicher Weg in den Putsch“ scharf kritisiert.

Boris Jelzins neuester Coup wird wohl die Moskauer „Doppelherrschaft“ hinwegfegen. Dann aber wird das Problem der Macht der Föderationssubjekte erst richtig zutage treten. Kai Ehlers