Einen Sinn entdecken ...

■ Berliner Aids-Initiative mit anthroposophischem Ansatz

Im Winter 1989 erfuhr Matthias, daß er positiv ist. Eigentlich war er nur ins Krankenhaus gekommen, weil er sich bei der Verfolgung eines Ladendiebes den Kiefer gebrochen hatte. Doch dann ging es ihm schlagartig schlechter. In wenigen Tagen verlor er acht Kilo Gewicht. Also wurde er gründlich durchgecheckt, bis die Diagnose feststand: Matthias ist HIV-positiv. Die Nachricht zog ihm zunächst den Boden unter den Füßen weg. Aber dann fand er eine Formel, die er zur Richtlinie seines zweiten Lebens, dem Leben mit Aids, machte – aus furchtbar mach fruchtbar. „Die Krankheit hat mir einen Schub gegeben, um aktiv zu werden.“ Plötzlich wußte Matthias, was er mit seinem Leben anfangen wollte. Er schmiß seinen ungeliebten Job bei Kaiser's, fand eine sinnvolle Aufgabe bei der Deutschen Aidshilfe, eine neue Wohnung, neue Freunde und lernte, zu seiner Homosexualität zu stehen.

Es war die Anthroposophie, die ihm half, seine Krankheit besser zu verstehen und mit ihr umzugehen. Als Schüler einer Waldorfschule kannte er die Philosopie Rudolf Steiners bereits. Über eine Anzeige fand er Gleichgesinnte, die sich aus anthroposophischer Sicht mit Aids auseinandersetzen wollten. Es entstand eine lose Gruppe, die sich wöchentlich zu Lektüreabenden traf. Anfang vergangenen Jahres wurde daraus ein richtiger Verein: Der „Regenbogen“.

Der „Regenbogen“ ist die einzige Aids-Initiative in Berlin mit einem anthroposophischen Ansatz. Es ist ein kleiner Verein mit etwa dreißig Mitgliedern. Zum harten Kern gehören nur zehn bis zwölf Leute. Gut die Hälfte der Gruppe ist nicht infiziert. Aber alle fühlen sich in irgendeiner Weise betroffen. Wie zum Beispiel Florian, der als Heileurhythmist durch ein Aids-Seminar im anthroposophischen Krankenhaus Herdecke mit der Krankheit in Berührung kam. Oder Angelika, die vor dreieinhalb Jahren ein aidsinfiziertes Kind in Pflege nahm. Um mit den damit verbundenen Belastungen besser fertigzuwerden, suchte sie den Austausch mit Betroffenen. Und das auf anthroposophischer Grundlage. „Denn Aids ist keine Krankheit wie jede andere“, meint Angelika, „da muß man geisteswissenschaftlich herangehen.“

Für alle im Initiativkreis ist die Anthroposophie der Schlüssel zum Verständnis des Lebens und zum Umgang mit der Krankheit. „Der Glaube an die Reinkarnation und die sinnhafte Fortentwicklung der unsterblichen Seele macht es leichter, die Krankheit als Schicksal und vielleicht notwendige Erfahrung zu akzeptieren“, sagt Angelika. In dieser Perspektive fällt es leichter, den Tod nicht mehr zu tabuisieren. Er ist nur ein Abschied auf Zeit. Tod und Sterben werden als Teil des Lebens verstanden. Einerseits wollen die Mitglieder des „Regenbogens“ anders mit dem Tod umgehen. Der Kranke wird im Sterben bis zuletzt bewußt begleitet. „Andererseits geht es darum, für sich selbst einen Sinn in der Krankheit zu entdecken und so Lebensqualität für die verbleibende Zeit zu gewinnen“, erklärt Matthias. Und das ist wichtig, um überhaupt weiterleben zu können.

Neben den Lektüreabenden des engeren Arbeitskreises bietet der „Regenbogen“ verschiedene anthroposophische Therapien an. Das Angebot reicht von Musik- und Maltherapien über Massage und Heileurhythmie bis zu Biographieseminaren. Daneben plant der Verein ein umfassendes Projekt für Aidskranke: Im Zentrum steht ein Hospiz, eine Art Lebens- und Sterbehaus mit intensiver Betreuung auf anthroposophischer Grundlage. Auch Wohnprojekte und eine kulturelle Begegnungsstätte will der Verein demnächst organisieren.

Für die Gruppe ist das gemeinsame Arbeiten von Positiven und Nichtinfizierten entscheidend. „So bleibt es kein Engagement am grünen Tisch, an dem die Nichtinfizierten entscheiden, was für die Betroffenen gut ist“, sagt Florian. Doch die Zusammenarbeit erfordert große Sensibilität. Unbefangenheit ist kaum möglich. „Denn letztlich bleibt der Graben zwischen Positiven und Nichtpositiven unüberwindbar“, meint Matthias. „Wenn zum Beispiel ein gemeinsamer Freund stirbt, ist es einfach ein Unterschied, ob man sich als Positiver bald selbst da liegen sieht oder als Frau in den Wechseljahren, die wohl nie Aids bekommen wird, darüber spricht.“ Indem man lerne, diesen Graben zu akzeptieren, könne man ihn gemeinsam aber ein wenig überwinden. Die Nichtinfizierten haben mit dem steten Abschiednehmen zu kämpfen. Allein im letzten Jahr gab es drei Beerdigungen. „Es ist schwer, mit dem Gefühl, die gehen ja doch alle weg, so intensiv zusammenzusein“, sagt Angelika.

Trotz aller Schwierigkeiten halten die Mitglieder des „Regenbogens“ das gemeinsame Arbeiten für richtig. Matthias machen die Abende im Verein viel Spaß. Und er hat durch den „Regenbogen“ gelernt, sein Leben besser zu meistern. Er möchte so intensiv wie möglich leben. „Denn vielleicht ist dieser verregnete Sommer mein letzter.“ Anja Dilk