Kautschuk und Kaffee

■ 100 Jahre Erlebnisgastronomie am Steindamm: Zum Jubiläum ein Seitenblick hinter die Kulissen der Hansa-Theater-Varieté-Schau Von Julia Kossmann

Theater-Teller. 5 halbe belegte Brote (Aal, Schinken, Cervelat, Ei, Käse)*. Bevor wir diese seit 1948 servierte Schnittchenkreation unter die Lupe nehmen, zunächst ein Seitenblick auf die 969. Monats-Schau im ältesten Varieté Deutschlands, um ein Näschen Hansa-Theater-Luft zu schnuppern.

Bremer Reihe, ein grauer Samstagnachmittag im Februar. Auf dem Parkplatz am Hintereingang steht ein Dutzend Wohnwagen, auch ein geräumig scheinender Container für die drei gerade gastierenden Bären. Genau hier war einmal das Hansa-Theater mit über 1.000 Plätzen, bis 1943. Seit August 1945 wird im ehemaligen Elefantenstall gespielt, jeden Tag, 14 mal die Woche. Keine Bar. Kein Tanz. Der Pförtner und Parkplatzwächter ist eingeweiht, weist den Weg in die Welt gepflegter Unterhaltung.

Ein Treppchen hoch und links und rechts abgebogen, tut sich ein enger Gang auf, Garderobentüren, ein schwarzes Brett mit vergilbten Mitteilungen: „Alle ausländischen Künstler haben ihren Aufenthalt in der BRD unter Vorlage ihrer Pässe bei der Ausländerbehörde anzuzeigen.“ Unterschrieben: 1970. Daneben ist die Visitenkarte eines Kleintierarztes angepinnt.

Vierzehn Artistinnen und Artisten warten auf den Gong, machen sich warm, bevölkern die Gänge und die wenigen freien Flächen neben und unter der Bühne, den kargen Künstlerpausenraum. Janine, die Kautschuk-Frau, dehnt sich in ihrer Garderobe, der Jongleur Edi Laforte trainiert gegen die Erdanziehung, Prasanna Rao, der Schattenzauberer mit bloßen Händen, knetet und massiert seine „Werkzeuge“, die er auch über 70jährig noch unendlich geschmeidig bewegt. Seine Frau bügelt. Als sie 1970 in Hamburg gastierten, kam gerade ihr Sohn zur Welt, seitdem leben die Weltbürger aus Indien in der Hansestadt, und Rao wurde ein Star in André Heller-Programmen und großen Zirkusarenen.

Der Gong, das Publikum hat Platz genommen, die Kellner eilen sich unsichtbar machend durch die Reihen. Jeder 2. Platz liegt an ein-em Gang, deshalb stets unbehinderter Zu- und Abgang. Störungsfreie Bedienung. Die Schau beginnt mit Massimilianos Auftritt. Während er auf dem Drahtseil tänzelt und springt, zu Jackos „Bad“ einen Salto schlägt, gibt Nataly, Gattin und Assistentin des Jongleurs und Bärendompteurs Edi, ihrem Baby hinter der Bühne die Flasche. Geschminkt, toupiert, mit Straß geschmückt, blitzt ihr glitzerndes Show-Kleid unterm schlichten, warmen Wintermantel hervor. Für Späße sind die Brüder und Kaskadeure Massimiliano, der Seiltänzer, und Alessandro zuständig. Von den Bühnenwerkern mit „Hallo , Mafioso!“ begrüßt, spielt Alessandro den durchtriebenen Ragazzo und triezt Bühnenmeister Peter Denker, der seit fünf Jahren im Hansa arbeitet. Gefragt, wie lange er schon Ar-tist sei, antwortet Alessandro, 24, in hinreißend italienischem Englisch: „In der 5. Generation.“

Im Keller unter der Bühne machen sich derweil vier Rollschuhfahrer aus England mit Handstand, Spagat und Strecken bereit, direkt neben den hier gestapelten Bühnenprospekten aus über 60 Jahren. Die alten Leinwände kommen auch bei heutigen Shows noch zu Ehren - wie ein idyllischer Prospekt mit einem Bauernhaus aus den 30er Jahren, der in der 969. Monats-Schau in die Nummer von Fax, dem Musik-Clown, rasselt. Das störe ihn denn doch etwas, erzählt er später, aber es ist ein Einfall von ganz oben. Den Ablauf choreographiert die Chefin selbst: Telse Grell, Enkelin des Hansa-Theater-Gründers und vormaligen Braumeisters Paul Wilhelm Grell, sucht nicht nur die Artisten auf Reisen durch alle Welt, sie stellt die Programme zusammen und wählt die Bühnenbilder aus, die sie so gut verwahrt. „Sonnenuntergang“, „Hafenblick“ - aufgerollte Theatergeschichte lagert hier in langen Regalen. Da kommt nichts weg - eben nicht die einzige eigensinnig anmutende Idee der alten Dame, die sich in ihrem Haus als „Mädchen für alles“ nützlich macht, wie sie sagt, nicht um sie geht es, sondern um die Artisten.

Die kreiselnden Rollerskater verbreiten unter der Bühne einen infernalischen Lärm. Der Kanadier, der hier seit gut zwei Jahren die Bühnenbilder mit einer historischen Seilanlage hievt und einholt - assistiert von einem Kollegen oberhalb der Bühne - nimmt's stoisch. Der bärtige Hüne mag seinen Job unter den Brettern, trotz Sechs-Tage-Woche und eines Gehaltes, das zum Lottospielen animiert. Dieses Schicksal ist hier allen Mitarbeitern gleich, sie lassen aber auf ihren Job und die Chefin - scheint's - nichts kommen.

Während sich das Publikum nach der aufregenden Rollschuh-Nummer wieder zurechtgerückt hat, und Rao den Schatten eines Häschens auf der Leinwand Haken schlagen läßt, spülen unten in der Kaffeeküche fünf Frauen Teller, Tassen, Besteck in großen Becken mit der Hand und stellen georderte Kaffeegedecke auf ein zahnradbetriebens Förder- und Abzählband. Warum keine Spülmaschine? „Frau Grell will das so“, antwortet Frau Hotschi, seit über 15 Jahren in der Hansa-Crew. Zugegebenermaßen vermeidet diese Maßnahme Müll, gepflegter ist es allemal. Und man denkt, ein Fossil wird hundert. Hier werden Traditionen gepflegt aus einer Zeit, da kapitalistische Unterhaltungsbetriebe noch Gewinn abwarfen, und statt Daddelhallen Varietés florierten. Zum 100. Geburtstag des Hansa-Theaters zeichnet sich eine Trendwende aufwärts in der Branche ab.

Die Auftrittszeit der Artisten ist im Programmheft auf die Minute angegeben. Dieser Zeitfahrplan dient zur Orientierung der Gäste, dem pünktlichen Ablauf der Vorstellung, aber auch dem Nachmittags-Publikum zum Beweis, daß trotz Preisermäßigung gleiches Programm wie abends - und damit man nicht zu spät vom Klo kommt vielleicht.

In der Pause wird es in der Kaffeeküche lebendig. In Sekundenschnelle werden Theater-Teller dekoriert, Tabletts balanciert, auch hier gilt wie hinter der Bühne: Keine Hektik, aber jeder Handgriff muß sitzen. “ Theater-Teller, Theater-Teller“, knurrt der Magen.

Erst noch ein Besuch bei Theodor, dem Mann am Verfolger. Über das Dach gelangt man in die Kiste, in der er unter der Decke des Zuschauerraumes hängt, den Kohlescheinwerfer auf die action richtet, auf- und abblendet - und vor allem: Bei dem antiquierten Apparat muß er ständig per Hand die beiden Kohlestäbe justieren, damit nicht plötzlich der Spot ausfällt. Auch hier denkt Frau Grell traditionell. Die neuen Spots hätten eben entscheidende Nachteile gegenüber den Alten. Theodor wird deshalb ständig von einem Hauch von Wunderkerzen umweht. Zu hoffen steht für Theodor, daß neue Strahler bald gut genug sind für die hohen Ansprüche der Chefin, der es nicht nur um Tradition, sondern besonders um Qualität geht. Peinliche Sauberkeit im Saal und auf der Bühne, deshalb größtmögliche Feuersicherheit. Nicht nur die Gäste, auch die Artisten schätzen die Gediegenheit des Hauses, die meisten kehren oft jahrelang wieder beim Hansa-Theater ein - zur Arbeit oder zum Vergnügen.

Während die letzte Nummer läuft und Fax als McSovereign seinen zweiten Auftritt mit Diabolo-Tricks auf die Bühne legt, wirft Janine einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel und die gelenkige Prinzessin schreitet zur „Festlichen Reverenz der Hanseaten“ an ihr Publikum. Perfekt strahlende Gesichter, feierliches Winken ins Publikum, Applaus, Applaus, der Vorhang fällt, und mancher denkt ans Abendessen. Eineinhalb Stunden Pause bis zur Abendvorstellung.

Bald schon kommen die ersten Gäste, lassen sich von den Damen in den Mädchentrachten von 1894 die Mäntel und Hüte abnehmen, wie vor 100 Jahren. Aber das verblüfft das Publikum im Hansa-Theater weniger als die Artistik auf der Bühne, die sich so sicher und bequem vom gedeckten Tischchen aus verfolgen läßt. Und nebenbei macht der Theater-Teller in mundgerechten Happen ohne lästiges Messerklappern auf dem Porzellan satt. In den nächsten Monaten ist hoffentlich mal wieder eine Pudelnummer im Programm - in der Jubiläums-Schau im März gibt's eine Seehund-Dressur wie weiland bei Carl Hagenbeck.

* Zitate aus dem Programmheft sind kursiv gedruckt