■ Filmstarts à la carte
: Plötzliche Lachsalven und Hände in Hosentaschen

Berlin Ecke Schönhauser muß für Defa-Filmer und ihre Nachkommen eine Art „Große Freiheit No. 7“ gewesen sein, ein mythologischer Ort in der Stadt, in dem es Eckensteher, schöne Mädchen, plötzliche Lachsalven und Hände in Hosentaschen gibt, eine Art Jugendkultur für jedermann, und Kirmes ist immer. Hier hat nun Heinz Brinkmann seine Langzeitstudie dreier Freunde angesiedelt, welche Alfred, Micha und Dieter heißen. Die Namen sind Programm: So heißt der kleine Mann, der, von den Systemen gebeutelt, zum Stehaufmännchen wird. Wir müssen ihn einfach mögen. Alfred war einmal Chefredakteur einer Ostzeitung, auf deren Ausgabe zur Mondlandung er noch heute so stolz ist, daß es ihn zu Tränen rührt (wie ihn überhaupt fast alles zu Tränen rührt, über das er länger als zwei Minuten nachdenken soll). Zum Zeitpunkt des ersten Films, Komm in den Garten, ist er ein ausgedörrter Alki mit den bekannten Lieblingsapologien („der Flaschenteufel hat ihn gebeutelt“). Er erzählt sein Leben in Schnapszahlen: 33 geboren, 44 verschüttet, 55 mit dem Schreiben angefangen, 66 in den Knast – Dunkelhaft.

Alfred über seinen Zeitungen, Alfred in der Küche, Alfred auf dem Balkon beim Haareschneiden durch eine Bekannte, Alfred in der Nachbarschaft. Der Gestus der Langzeit-Ethnologie, der den Film vor Alfreds Sentimentalismus bewahrt hätte, wird leider nicht so recht durchgehalten: Ähnlich wie in anderen Post-Defa-Experimenten operiert auch Komm in den Garten unter der Beweislast, zeigen zu müssen, daß diese Leute, diese Simplicissimi, nun wirklich nüscht hätten machen können, aber auch gar nüscht. Dieter hat zehn Jahre im Knast verbracht, weil er nicht arbeiten und angeblich auch, weil er niemanden verraten wollte. 12 Jahre durfte er nicht nach Berlin. Nun malt er und malt. Micha hingegen filmt und filmt, nachdem er früher soff und soff. Zwischen den dreien kursieren einige Frauen.

Der zweite Film zeigt einige dieser Sprünge als Resultat der Zeit nach der Wende, aber leider will er nicht genau genug wissen, was die plötzliche Abwesenheit staatlicher Drangsalierung im Ost-Stil für die Alltagskultur von Leuten bedeutet, die sich dem Druck schon vorher durch ihr Nahkampfnetz Schönhauser Allee zu entziehen versucht haben. Haben Sie diesen letzten Satz verstanden? Bitte ankreuzen: ja/ nein/ weiß nicht/ will nicht.

Die Camera im Tacheles beschäftigt sich im schönen Monat Mai mit dem noch schöneren Thema Racheengel. „Mit dieser Veranstaltungsreihe wenden wir uns einem spezifischen Frausein, nämlich einer Weiblichkeit in Extrembildern zu. Bei der Gelegenheit sollte man auch auf das spezifische Müdesein eingehen, welches man beim Lesen solcher Extrembilder von Sprachverglitschung empfindet. Wenn Sie darüber einen Film machen möchten und suchen noch Vorschläge und Vorschläginnen könnt' ich wohl ordentlich was beisteuern.

Eine ganz andere Art von Langzeitfilm hat der Kanadier Bruce Elder gemacht. Er hieß Illuminations, wenn ich mich recht erinnere, und dauert etwa sieben Stunden. Daran erinnere ich mich genau, denn ich war dabei. Es geht um so ziemlich alles: um Männer und Frauen, Gesteinsformationen, Vogelparks, aufziehende Gewitterwolken, die Nitribitt, den Holocaust und die Gutenberg-Galaxie. Wenngleich der Gesamtaffekt etwas zivilisationsmüde überkommt, entsteht doch visuelle Dichtung. Bruce Elder, der auch einer der eminentesten kanadischen Filmtheoretiker ist, wird Gast im Arsenal sein und dort seinen neuen Film Exultations: In the Light of the Great Giving vorstellen.mn

Babylon, Filmmuseum Potsdam, Colosseum, Checkpoint, Acud, Zeughaus: diverse Termine siehe Programm

Camera im Tacheles: Maiprogramm

Arsenal: 11. 5.