: Freiraum oder bloße Kulisse?
taz-Serie „Das Verschwinden des öffentlichen Raums“ (Teil 1): Der Streit um die Bebauung der Tacheles ist auch ein Kampf um das Verständnis von Urbanität ■ Von Uwe Rada
Toni Sachs Pfeifer ist von ihrem Modell überzeugt. Drei Jahre lang hat die in New York geborene Kommunikationsforscherin geredet, geplant, Interviews geführt und verhandelt. Drei Jahre Arbeit investierte sie für ein städtebauliches Modell, das für Berliner Verhältnisse tatsächlich ungewöhnlich ist. Auf 23.000 Quadratmetern Grundstücksfläche im Zentrum der Stadt soll eher gekleckert als geklotzt werden, sind 40 einzelne Häuser statt massiver Kubatur, fünfzig Prozent Wohnanteil und überdies ein Platz vorgesehen, der – um den ambitionierten Vorhaben eine urbane Programmatik zu verleihen – dem Projekt auch noch seinen Namen gibt: „Das Ei am Tacheles im Johannisviertel“.
Das klingt nicht schlecht, wird doch allenthalben über den Verlust an städtischer Öffentlichkeit, die Ödnis innerstädtischer Bürolandschaften, gar über die Privatisierung der Stadt lamentiert. Toni Sachs Pfeifer scheint sich in ihrer Planung für die Kölner Fundus- Gruppe das „Urbane“ dagegen geradezu auf die Fahnen geschrieben zu haben. Ein „neues Quartier mit den bekannten Tugenden der Berliner Mischung“ schwebt ihr und dem Planungsbüro Michael Lowe/ Arup Urban Design für das Tacheles-Areal zwischen Oranienburger und Johannisstraße vor: Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, Freizeit und Kultur sollen bis zur Fertigstellung des Johannisviertels im Jahre 2002 „eng miteinander verwoben“ sein.
Dem städtebaulichen Leitbild der Entmischung städtischer Strukturen von Wohnen, Arbeiten und Freizeit und damit der rationalen, fragmentarischen Stadt der Moderne überhaupt soll zugunsten eines öffentlichen Ortes eine radikale Absage erteilt werden. „Tag und Nacht“, versprechen die Planer, „wird das Johannisviertel kein Ort sein, den man nach Dienstschluß verläßt, sondern ein Stück Stadt mit allen Gegensätzen und Spannungen, aller Lebendigkeit und Erlebnisvielfalt, die ein innerstädtisches Quartier entfalten kann.“ Doch ist es tatsächlich möglich, großstädtisches Leben, das „angestrebte Stück Stadt mit allen Gegensätzen und Spannungen“ am Reißbrett zu entwerfen? Ist es denkbar, dem schleichenden Verlust an öffentlicher Kommunikation eine neue Idee städtischen Lebens entgegenzusetzen, wenn man nur kleinteilig und urban genug baut?
Der Stadtsoziologe Hartmut Häußermann ist skeptisch. „Wenn man von Urbanität spricht“, klagt er, „sind heute meistens Äußerlichkeiten gemeint, etwa kulinarische Angebote, mit denen der Konsument unterhalten werden soll.“ Urbanität, verstanden nicht nur als Bild des Städtischen, sondern deren Wirklichkeit, kann für Häußermann nur dann entstehen, „wenn es auch Orte gibt, die nicht der ökonomischen Verwertung unterworfen sind, Orte, die sich nicht verplanen lassen, deren Nutzung den Nutzern vorbehalten bleibt“. Im Klartext: Eine Straße oder ein Platz, an dem man sich auch auf den Bürgersteig setzen kann, ohne vertrieben zu werden, an dem man sich ausruhen kann, an dem man entlangehen und an jeder Ecke Neues entdecken kann, den zu erreichen man gerne einen Umweg in Kauf nimmt, der einen damit vom geraden Weg abbringt, ein Ort, der einen fordert und gleichzeitig nicht nötigt.
Warum aber sollte man einen solchen Ort an einer Stelle schaffen, wo es ihn bereits gibt? Gerade die Tacheles-Ruine mit der dahintergelegenen Freifläche ist für viele seiner Nutzer ein innerstädtisches Areal, dem das Wechselspiel von Öffentlichkeit und Intimität, die Voraussetzung dafür, daß ein Platz auch als Kommunikationsort genutzt wird, zu eigen ist. Ein Platz ganz nach dem Geschmack von Häußermann: „Das Typische und Aufregende an städtischen Szenen ist, daß man mit etwas konfrontiert wird, das man nicht erwartet. Und dazu gehört natürlich auch das Widerständige, das Anarchische.“
Ludwig Eben, ein Maler, der seit der Besetzung 1990 im Kunsthaus an der Oranienburger Straße arbeitet, muß erst gar keine Visionen entwerfen, wenn er von öffentlichem Raum spricht. Dieser Raum ist für ihn vielmehr existent – als Skulpturenpark, Biergarten, Grünfläche oder als Ort für allerlei Selbstdarstellungen. Es ist die Freifläche, die mit der Tacheles-Ruine korrespondiert und damit ein eigentümliches Amalgam aus Vertrautheit und Anonymität, einen Ort voller Überraschungen schafft. „Neulich wurden im Friedrichstadtpalast Mozarttage veranstaltet“, erzählt Eben. „Im Anschluß an die Vorstellung kamen die Musiker dann auf unsere Freifläche, haben ihre Instrumente wieder ausgepackt und eine spontane Session veranstaltet.“
Während Pfeifers „Ei am Tacheles“, das sich immerhin durch das wirtschaftliche Wagnis auszeichnet, eine kleinräumliche Metrik, einen kooperativen Planungsansatz mit den künftigen Nutzern und eine Subventionierung der sozialpolitisch sinnvollen Projekte umsetzen zu wollen, an jedem anderen Ort der Stadt einen planerischen Impuls geben würde, wäre es für das Tacheles-Gelände tatsächlich mit einem Verlust an Öffentlichkeit, Spontaneität und Freiraum verbunden. Trotz des inflationären Gebrauchs des Begriffs Urbanität darf ja immerhin als unbestritten gelten, daß die städtische Lebendigkeit in der gebauten Wirklichkeit innerstädtischer Quartiere oft noch vorhanden ist, während sie dort, wo sie als Baumasse geplant ist, bis zum Beweis des Gegenteils nichts anderes ist als ein locker daherformulierter Anspruch.
Wenn die Tacheles-Betreiber an den von Toni Pfeifer geplanten Platz, das „Ei am Tacheles“, denken, packt sie schon jetzt das Grauen: „Da ist dann kein Leben mehr, sondern nur noch die Inszenierung von dem, was sich Stadtplaner als Leben vorstellen“, sagt ein Bildhauer. Entsprechend verhärtet sind die Fronten. Mittlerweile rüstet sich das Tacheles zum Kampf um seinen öffentlichen Freiraum: „Freisetzung von Kreativität setzt die Gewährung nicht verplanter Flächen oder von der Planung nicht betroffener Leerstellen voraus“, heißt es in einem Manifest der Tacheles-Künstler, mit dem sie ihre Ablehnung gegen das städtebauliche Modell von Toni Sachs Pfeifer und der Fundus-Gruppe auch auf einen künstlerischen Nenner bringen wollen.
Der seit Vorliegen der Pläne für das Johannisviertel ausgebrochene Streit um die Tacheles-Bebauung ist aber nicht nur ein Konflikt zwischen den um ihren Freiraum besorgten Künstlern und den Kunstpolitikern, zwischen den Vertretern des „Möglichkeitssinns“ und des „Wirklichkeitssinns“ (Robert Musil). Er verweist auch auf eine ungeklärte Debatte unter den Theoretikern des Urbanen: Sind die Auflösungserscheinungen unserer Gesellschaft ein (zumindest mittelbares) Ergebnis der Auflösung unserer Städte in reine Schlaf-, Wohn- und Amüsiermaschinen? Dies würde ja bedeuten, daß sich der Mangel an gesellschaftlicher Kommunikation durch die Rückbesinnung auf die urbanen Qualitäten der europäischen Stadt wieder beheben ließe. Oder aber ist die Auflösung der Städte ein Ausdruck veränderter menschlicher Kommunikation? Brauchen wir in einer Zeit, in der jedes private Thema in Talk-shows halböffentlich verhandelt wird, tatsächlich noch den öffentlichen Stadtraum?
Toni Sachs Pfeifer und den Planern des künftigen Johannisviertels, so hat es den Anschein, genügt es, wenn die äußeren Insignien eines Platzes vorhanden sind und sich mit den Insignien der modernen Bindestrich-Kultur, soll heißen, der Körper-Kultur, der Kneipen-Kultur, der Kino-Kultur (Ulrich Greiner) vermischen. Vor allem hinsichtlich der geplanten Nutzungen als Diensleistungs- und Amüsierort verspricht das „Ei am Tacheles“ tatsächlich den Charme einer Einbauküche, in der jedem Teil des Inventars ein bestimmter Platz zugewiesen ist.
Verglichen mit dem Ist-Zustand der Tacheles-Freifläche würde öffentliches Leben an diesem Ort eher absorbiert als hervorgebracht werden. Der Architekt Carl-Georg Schultz, der die Tacheles- Künstler unterstützt, fragt sich deshalb zu recht, ob „eine wirkliche Verknüpfung zwischen den nun wirklich sehr unterschiedlichen Welten der Spitzengastronomie“ und etwa dem aktuellen Kunst- Schrott-Projekt denkbar sei.
Überhaupt: Das „Ei“ sieht den zahllosen Piazze, wie sie die Postmoderne in der Vergangenheit hervorgebracht hat, zum Verwechseln ähnlich. Das Kunsthaus selbst wäre nur noch Teil der Kulisse des künftigen Johannisviertels: In der Sichtachse des Torbogens des ehemaligen Passagenkaufhauses steht ein Medienturm. Ringsherum säumen Läden, Bistros und Galerien den Platz.
In seinem Buch „Die zweckentfremdete Stadt“ kritisiert Andreas Feldtkeller den Topos der innerstädtischen Piazza damit, daß ihre Funktion nichts anderes sei, als das Zurschaustellen der Architektur, die die Piazza umrahme. Die Nutzungen dienten dabei lediglich der Unterhaltung derjenigen, die hierher kämen, um das Raumerlebnis der Piazza zu bewundern.
In der Tat wäre auch der neue Platz am Tacheles, das „Ei“, kein Ort mehr, der aus dem städtischen Kontext lesbar wäre, sondern aller Voraussicht nach ein künstliches Gebilde, dem die Topoi der bürgerlichen Stadtentwicklung, Komfort und Konsum, ihren Stempel aufdrücken.
Für die Tacheles-Künstler ist die Frage lebendiger Platz oder inszenierte Piazza damit zu einer Überlebensfrage geworden. In ihrem Manifest schreiben sie an anderer Stelle: „Kunst – ,die Freiheit nicht funktionieren zu müssen‘ – stellt in Frage und reflektiert in Abhängigkeit von der Zeit, in der sie geschieht“.
In ihrem Sinne konsequent haben sie deshalb den Kampf um ihre Freifläche, den öffentlichen Raum überhaupt auf einer Veranstaltungsreihe mit dem programmatischen Titel „Hochgeschwindigkeitsarchitektur“ zum politischen und künstlerischen Ziel erkoren. Der Standort Tacheles ist für eine solche Debatte ohnehin ein Ort, der verpflichtet. Schließlich war der 1908/1909 von Ahrens erbaute Stahlskelettbau durch seine Nutzung als Passagenkaufhaus bereits selbst ein Baustein in der Geschichte des Verschwindens städtischer Öffentlichkeit.
Für den Urbanitätsforscher Hartmut Häußermann ist das Tacheles sogar ein symbolischer Ort, an dem – an der Scharnierstelle zwischen der hinsichtlich ihrer Nutzungen entmischten City und dem urbanen Quartier der Spandauer Vorstadt – der Kampf um den öffentlichen Raum stellvertretend für Berlin ausgetragen wird. Es ist freilich ein ungleicher Kampf, denn außer Manifesten und einer Debatte unter Theoretikern haben die Verfechter des Urbanen dem Verwertungsdruck der Investoren nur wenig entgegenzusetzen. Auch Häußermann setzt deshalb auf einen Kompromiß, der nicht nur für das Tacheles gelten soll: „Weil wir jetzt überhaupt noch nicht abschätzen können, wie wir all die Flächen, die bereits verplant und bebaut sind, in zehn Jahren einmal wahrnehmen werden, muß ab sofort ein Planungsmoratorium durchgesetzt werden.“
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