Kurze Verschwisterungen im Walzertakt

Das Kurt-Weill-Fest in Dessau ist vielfältig und viele Tage lang: Manfred Karge inszenierte das Mammutprojekt „(K)ein Sommernachtstraum“, es gibt Weills erste Oper, seinen „Orpheus“, und das Publikum fordert mehr  ■ Von Sabine Zurmühl

Das Fenster in der Apsis der gotischen Marienkirche in Dessau, mit seiner schwungvollen S-Linie inmitten, einem christlichen Yin- und Yang gewissermaßen, blickte auf eine düstere Szenerie: Zwei Soldaten des Spanischen Bürgerkriegs gehen auf und ab, rufen sich ein „Besorg's ihm von hinten, dem schwulen andalusischen Hund“ zu und schießen wahrhaftig in die Stille der Kirche hinein.

Es ging um Federico Garcia Lorca, dem Manfred Karge mit einem „Requiem“ auf dem diesjährigen 5. Kurt-Weill-Fest ein Denkmal setzen wollte. Manfred Karge, ein Urgestein des DDR-Theaters, heute Leiter der Regieklasse der Ernst-Busch-Schule in Berlin, hat sich zu einem ungelösten Abend in seiner Verantwortung als Regisseur verlocken lassen. Die Veranstalter des Kurt-Weill-Festes hatten eine Mammutidee, die nicht einmal ein Herr Karge, nicht einmal ein hinreißender Spielort wie die Marienkirche zusammenhalten konnten: „(K)ein Sommernachtstraum. Fünf musikalische Bilder des 20. Jahrhunderts“.

„(K)ein Sommernachtstraum“ lockte Dessauer und Berliner, sich nach Karten zu drängeln. Sogar Seine Exzellenz, der amerikanische Botschafter, war zum voraufgehenden Empfang gekommen. Und Margarete Mathiopolos, die von Willy Brandt, ja, vertrat still und elegant als Direktorin der NordLB den Hauptsponsor. Vier Blechbläser mit „Soldaten wohnen – auf den Kanonen“ ließen vorab die Augen zwinkern, Festbeleuchtung durch Lüster, ein richtiges Event erster Klasse für Dessau und Umland: „Kommste nachher mit zurück? Wie weit mußte denn? Bis Pankow.“

Songkultur, Ballett und wahrhaftige Oper

Dessau ist der Geburtsort des Rabbinersohnes Kurt Weill, der dort 1900 zur Welt kam und mit erst 50 Jahren in Amerika, nach einer langen Odyssee im Exil, aber auch nach großen Erfolgen und einer großen Liebe zu seiner Frau Lotte Lenya starb. Mit der Kurt-Weill- Gesellschaft, dem Bauhaus, Kontakten zu jungen Musikern und Theaterleuten, aber eben auch mit Chuzpe zu Projekten, die manches Mal, wie dieses Mal, ein bißchen groß geraten, ist eine lohnende Mischung kultureller Aktivitäten entstanden, die vielerlei schafft: Musik der Klassischen Moderne bis heute, Songkultur, Ballett, Musikkino, Theater und wahrhaftige Oper.

Vom Rathausempfang also in die Marienkirche nebenan. Pastor Schorlemmer begrüßt herzlich und fest so viele, die er kennt, die ihn kennen. Er wirkt ein bißchen wie der Hausherr, obwohl dies doch eher der fleißige Geschäftsführer der Weill-Gesellschaft gewesen wäre. Aber protestantische Traditionen halten. In dieser Kirche von 1506, die 1945 bis auf die Grundmauern herunterbrannte, hing schließlich nicht umsonst so lange ein Lukas Cranach, der Luther an Jesu Abendmahlstisch zeigte. Wittenberg ist um die Ecke.

Jetzt ist der Bau für Weltliches zuständig. Man blickt auf eine halbhohe Bretterbühne, die an diesem „Sommernachtstraum“- Abend der Regisseur als Moritatenrufer eröffnet. Mit Zylinder und Stöckchen, Spielleiter und Spieldiener in einem. Er wird den Abend begleiten und damit einen sehr eitlen Eindruck erwecken, den er doch gar nicht nötig hat.

Was er mit seiner Regiefigur zusammenhalten will, sind fünf Stücke: eine Miniatur von Satie – „Vexations“ –, das kleine „Mahagonny“ von Weill selbst, eine Uraufführung nach Texten von Heiner Müller mit dem Titel „Fleischer und Frau“, komponiert von dem Theatermusiker Alfons Nowacki, der auch dirigiert –, schließlich „(K)ein Sommernachtstraum“, ein Tanzstück mit der Musik von Alfred Schnittke, choreographiert von Herrn Karge – und eben das von ihm verfaßte Textstück „Lorcas Tod“, ein „Requiem“, mit dem er Lorca ehren möchte.

Lorca, den er von den groben Soldaten grob die „schwule Sau“ nennen läßt, dem hoffentlich noch nach der Erschießung einer steht, der Junge, der Jungen liebt und vom Vater nur enttäuscht verstoßen wird – „Ich dachte, das ist ein Mann, der mir Enkel schenkt, jetzt ist es ein Schwein.“ Und die Mutter: „Schmach, Schande.“ Da konnte auch die wunderbare Lore Brunner als klagende Mutter, unerhörte Geliebte und groteske Tänzerin nicht gegen an: Die Hommage an Lorca geriet streckenweise zu peinlicher Pathetik. Zumal der junge Dichter, die Hauptfigur, von dem Solotänzer der Komischen Oper, Gregor Seyffert, nicht nur getanzt – das kann er begnadet –, sondern auch gesprochen wurde: und das kann er nicht. Warum möchte einer, der auf seinem Gebiet die Callas ist, gleichzeitig noch Boris Becker werden? Als Musik hat Karge Stücke von Anton Webern ausgesucht, dessen Musik als „entartet“ galt, der als Komponist der Wiener Schule Skandale erlebte mit seinen seriellen Stücken, seinen geradezu esoterischen, komprimierten Klängen. Die überhaupt längste seiner Kompositionen ist zehn Minuten. Diese hochintellektuelle Musik, filigran gespielt vom Ensemble Konrontation des Philharmonischen Staatsorchesters Halle, wurde in ihrer Wirkung manches Mal wie erstickt von dem, was alles Schnelles, Lautes und Symbolisches auf der Bühne passierte.

Ähnlich zwiespältig das letzte Stück, das „(K)ein Sommernachtstraum“ sein wollte. Der Komponist Alfred Schnittke, lettisch-jüdischer Abstammung, läßt in seinen Stücken andere Musikstile aufscheinen, da klingt es barock und gregorianisch, nach Johann Strauß und Synagoge, er verwendet Zitate der Beatles und Tschaikowskys – zur Herausforderung oder Verstimmung der Zuhörer. Für „(K)ein Sommernachtstraum“ betont Schnittke, „daß alle Antiquitäten in diesem Stück von mir nicht gestohlen, sondern gefälscht wurden“.

Aristokratie siegt gegen die Prollis

In der Choreographie nun besetzt Karge die Rokokomusik mit dem brillanten Ballettpärchen, die Walzer und Trummusik mit ungelenken, übereifrigen Turnierpaaren. Aristokratie gegen Prollis, Hand- und Fußgemenge, kurzzeitige Verschwisterungen im Walzertakt. Gewinnen aber tut die alte Musik, die Prollis bleiben verschüchtert am Rand. Was sich politisch korrekt als Ausdruck der nun angekommenen Reaktion verstehen mag, wird durch die Musik widerlegt. Die Ästhetik der (scheinbaren) Mozart-Töne obsiegt wirklich.

Das Kurt-Weill-Fest ist vielfältig und viele Tage lang. Man kann morgens schon anfangen. Mit Musikhören, mit Ausstellungen. Die ganze Region ist mit Spielstätten einbezogen, vom Bauhaus bis zum wiederauferstandenen Kulturpalast Bitterfeld, vom Feiningerhaus bis zum Anhaltischen Theater.

In dessen Foyer findet die Ausstellung „Großstadtarchitektur“ mit Fotos von Carin Drechsler- Marx statt. Die Fotografin ist Wahl-New-Yorkerin, sie hat seit Jahrzehnten ihre Beobachtungen festgehalten. Sich schneidende Flächen und Materialien, Totalen und nahest herangerückte Details. Drechsler-Marx engagierte sich seit Jahrzehnten für die Kurt Weill Foundation in New York, dessen Vorstandsmitglied ihr Mann Henry Marx war. Die Bibliothek von Henry Marx über Theater im Exil ist jetzt der Kurt-Weill-Gesellschaft überantwortet worden.

Das Anhaltische Theater ist ein gewaltiger Theaterbau, ein historizierendes Gebäude an leerem Rasenplatz, mit Freitreppe und respektheischender Höhe. Vorteil: Es ist immer ein Parkplatz frei. Die Straßenbahn quietscht vorbei, die die Dessauer in ihr neues Rathauszentrum bringt, mit Fußgängerzone, Eissalon, Trachtenstube und Döner. Und im Anhaltischen Theater fand die gewiß schönste Veranstaltung des ganzen Weill- Festes statt: „weil weill tanzt tanz“.

Das kann zwar keiner behalten, aber auf den Inhalt kommt es an: die frühen Weill-Kompositionen – Lieder, Szenisches. „Die Achse der Welt ist rostig geworden“, heißt es in „Der neue Orpheus“. 1925, Text von Iwan Goll: „Bäche altern und das Vergißmeinnicht denkt an Selbstmord. Orpheus: wer kennt dich nicht: 1 m 78 groß, katholisch, sentimental, für die Demokratie und von Beruf ein Musikant ...“

Die Vertonungen Weills aus den frühen Jahren zeigen noch viel Affinität zu Gustav Mahler, zu seinen kantoral-jüdischen Wurzeln, sie sind verspielt, nicht auftrumpfend, grotesk manchmal, gut gelaunt und oft durchsichtig. Auf der Bühne finden sich nebeneinander die konzertierenden oder sogar mitspielenden SängerInnen und das Ballettensemble, das ironisch, exzentrisch, lyrisch die Texte in der Choreographie von Arila Siegert begleitet. Auch eine andere Wiederentdeckung, die wirklich erste Oper Weills, der Einakter „Der Protagonist“, wird so präsentiert. Ein großes Vergnügen, das gleichzeitig Intimität bewahrt. Musikalisch ein Genuß, ein Neu-Hören, wie es nur zu wünschen ist.

Der „Orpheus“ wird Bestandteil der nächsten Ballettpremiere am 28. März sein, es wäre aber dringend zu wünschen, diesen gesamten Abend mit Stefanie Wüst, Rebecca Martin und Denise Pelletier als Solistinnen fortzuführen. Das Publikum blieb sitzen und wollte mehr.

Kurt-Weill-Fest Dessau: „(K)ein Sommernachtstraum“, Marienkirche, 7./9.3.; „Der neue Orpheus“, Anhaltisches Theater, 28.3.

Infos: (0340) 214 661