"Spiel mit der Zeit"

■ Schreiben über Aids und das Leben mit dem Virus: Ein Gespräch mit dem Berliner Schriftsteller Mario Wirz

Als Mario Wirz vor fünf Jahren seinen Roman „Es ist spät ich kann nicht atmen. Ein nächtlicher Bericht“ veröffentlichte, waren die Reaktionen geteilt: Die einen – meist Unbeteiligte – würdigten den Roman als längst überfällige, bis an die „Grenzen der Obszönität“ gehende und „schonungslos ehrliche“ Auseinandersetzung mit den Ängsten, die die Diagnose HIV-positiv und die ersten Anzeichen der Krankheit beim Betroffenen auslösen. Den anderen – meist den Schwulen – brachte der Autor ein Thema, das sie gerne auf Distanz halten wollten, so unheimlich nahe, daß sie abwehrend und abwertend von „Larmoyanz“ sprachen: von Betroffenheitsliteratur. Sie bevorzugten den oberflächlich-fröhlichen Roman „Schweine müssen nackt sein“ von Napoleon Seyfarth, der ihnen einen HIV-Positiven präsentierte, mit dem sich vortrefflich scherzen ließ. Ein weiterer Roman von Mario Wirz ist seither erschienen („Biographie eines lebendigen Tags“, 1994), der trotzige Gedichtband „Ich rufe die Wölfe“ (1993) und nun ein neuer Gedichtband: „Das Herz dieser Stunde“.

taz: In Ihrem Roman „Es ist spät ich kann nicht atmen“ sagen sie „ich“. Sie sagen „mein Aids“, „mein Virus“, „meine T4-Helferzellen“, „meine Angst“ und „meine nächtlichen Schweißausbrüche“. Sie haben damit ein Tabu gebrochen. Anders als der optimistische Napoleon Seyfarth haben Sie heftige Gegenreaktionen ausgelöst. Gehört dieser Tabubruch auch heute noch zu Ihrem Schreiben über Aids?

Mario Wirz: Als mein Buch 1992 erschien, wurde eher eine starke und heldische Pose erwartet. Nach dem Motto: „Ich bin zwar verzweifelt, aber keine Bange, ich gründe jetzt eine Positivengruppe, ich engagiere mich, ich komme damit klar.“ Diesen eingeforderten Optimismus habe ich verweigert. Ich wäre vielleicht sehr gerne jemand, der stärker, vitaler, fröhlicher, weniger verklemmt und offener in alle Richtungen ist. Aber meine Tatsachen sind andere, und diese Tatsachen verwandle ich in Literatur. Ich begreife natürlich, daß ich mit einer Prosa der Ängstlichkeit und einer Prosa des Zweifels oder der Unsicherheit nicht willkommen war, weil ich dadurch natürlich auch andere bedroht habe in diesem Bild von sich selbst. Aber damals wie heute schaue ich mich selbst schonungslos an und mache keine Zugeständnisse an die Bedürfnisse anderer. Da hat sich nichts geändert. Das habe ich unter anderem auch durch Aids gelernt. Es heißt ja in den Talkshows manchmal, daß man geradezu dankbar sein muß, wenn man HIV-positiv ist, weil man mit dem Virus erst richtig zu leben lernt. Wenn ich etwas gelernt habe, dann, mich selbst radikal und schonungslos anzuschauen!

Gegen die Angst – und auch gegen die „traurige Ungeduld“ derer, die „schon jetzt Ausschau halten nach meinem Tode“ – setzen Sie die Hoffnung. Der Tod war ja sehr nahe und tritt doch auch wieder einen Schritt zurück – durch den Fortschritt der Behandlungsmethoden, durch die Kombinationen von Medikamenten...

Ich bin natürlich auch ein wenig von diesem Optimismus infiziert, der jetzt durch diesen „Dreier- Cocktail“ von Pillen legitimiert scheint. Euphorische Stimmen sprechen ja von einem Wunder und sagen, der Tod sei besiegt. Davon kann natürlich keine Rede sein. Aber ich ertappe mich dabei, daß ich nicht mehr in ganz kleinen Zeiträumen denke, heute und die nächsten zwei, drei Monate, sondern daß ich manchmal ganz keck über ein oder zwei Jahre hinaus denke und träume. Aber es geht mir ja schon lange gar nicht mehr um Aids. Aids ist ja nur ein Synonym für eine Art „Lebenshaltung“. Es steht für den Versuch, einen besonderen Blick auf die eigene Geschichte zu werfen. Jeder schöpferische Mensch ist in einem schöpferischen Prozeß der Erfindung der eigenen Geschichte. Egal, was ihn dazu nötigt. Ob das eine Katastrophe ist, ob das eine Krankheit ist, ob das ein großes Glück ist, eine große Liebe. Für mich war Aids der Anlaß, meiner Lebendigkeit auf die Schliche zu kommen zu versuchen. Das geht über den Aspekt der Angst hinaus. Ich könnte polemisch behaupten, daß alle meine Texte Inszenierungen von Vitalität sind und geradezu literarische Ausbrüche von Lebendigkeit.

Leben und Tod, Hoffnung und Angst – gehört das zusammen?

Das Krankheitsbild dieser Gesellschaft besteht gerade in dieser barbarischen Trennung von Leben und Tod, Gesundheit und Krankheit, Glück und Unglück. Und wir haben das wunderbar in verschiedenen Schubladen verstaut. In diese künstlichen Trennungen wachsen wir hinein, wir trainieren sie. Für mich bestehen sie jedoch gar nicht. Ich habe mir nie eingebildet, daß Angst, Todesangst, eine besondere Begabung von Aids-Infizierten ist. Mich hat dieser Virus besonders sensibilisiert für diese Momente von Sterblichkeit oder Loslassen oder Abschied nehmen müssen. Aber das sind doch alles Dinge, die wir ständig erleben – jeder von uns. Wir mußten uns von unserer Kindheit verabschieden, von unserer Jugend. Ständig übt uns der Tod in verschiedensten Situationen, Katastrophen und Erlebnissen. Und das ist eigentlich mein Thema. Schon der Tod, aber keineswegs im Privileg oder im Ghetto von Aids. Meine Texte spielen mit dieser Ambivalenz, gefangen zu sein in dem Bewußtsein ständiger Erfahrung von Sterblichkeit und – auf der anderen Seite – dem trotzigen Anspruch auf Lebendigkeit, auf Liebe, auf Sinnlichkeit.

Wird der Tod dabei zum Freund? In einem Ihrer Gedichte verwandelt er sich vom Fremden zum Freund, in anderen sprechen Sie vom „Untermieter“, dem sie nicht kündigen können, von Ihrem ständigen Begleiter, von dem Kind, das leise Ihren Namen ruft und Sie auf die andere Seite winkt. Entgegen der trotzigen Haltung, die Ihren letzten Gedichtband geprägt hat, scheint der Tod auch etwas Tröstliches bekommen zu haben.

Tatsache ist, daß ich nicht mehr diese dominante Panik habe. Ich habe den Tod in seinen verschiedenen Gestalten gesehen. Er ist nicht mehr nur diese Angstgestalt. Mir ist eigentlich klargeworden – so banal sich das jetzt anhört –, daß er ja immer da war, von Kindheit an bis zu diesem Augenblick jetzt. Und das ist keine rationale Erkenntnis oder ein Bekenntnis, sondern das ist buchstäblich durchgegangen durch den ganzen Körper, das hat mich total aus meinen Fugen gehoben, im guten Sinne.

Die Zeit steht im Mittelpunkt des neuen Gedichtbands. Geliehene Zeit, gestohlene Zeit und infizierte Zeit, gemästete Zeit, vergeudete Jahre und die Stunde des Todes. In der Sprache wird der Tod zum Gegenüber. Messen Sie die Kräfte mit ihm, wenn Sie so souverän mit Ihrer Zeit umgehen?

In den Gedichten verwandele ich mich von einem Ohnmächtigen in einen Mächtigen. Mächtig in der Fiktion. Mächtig in diesem Spiel mit der Zeit. In diesem Spiel verliert sie an Ernst und Bedrohlichkeit. In den Augenblicken des Spiels und des Schreibens und der Erfindung kann ich mich in eine fröhliche Illusion hineinschreiben, daß ich, der Schöpfer meines kleinen Kosmos, über den ich Auskunft gebe, immun bin. Oder zumindest gewappnet. Das ist ein bißchen Größenwahn, das ist ein bißchen Selbstbetrug, hat aber sehr schöpferische, sehr schöne Nebenwirkungen.

Nach dem Motto: „Wer redet, ist nicht tot“?

Das ist meine Privatreligion. Ich bin immer unruhig, unsicher in Zeiten, in denen ich nicht schreibe. Ich habe dann wirklich das Gefühl, daß mich die Sprache im Stich läßt und ich dadurch wesentlich verwundbarer bin. Was ist Sprache? Was sind Worte? Vielleicht können sie den Tod nicht bannen und keinen Fluch. Aber sie schenken dir eine Sternenkraft, die dich mit dem Fluch leben läßt. Interview: Detlef Grumbach

Mario Wirz: „Das Herz dieser Stunde“. Gedichte. Aufbau Verlag, 112 Seiten, 29,90 DM