Trotzkopf muß in die Gegenwart

■ „Ana in Venedig“des brasilianischen Autors João Silvério Trevisan erzählt die (Exil-)Geschichte der Literatenfamilie Mann

Ein Sommer am Ende des 19. Jahrhunderts. In Venedig treffen sich drei Personen: Julia, die Mutter von Heinrich und Thomas Mann, ihre ehemalige Amme Ana und der brasilianische Dirigent Alberto Nepomuceno. Ihr Thema: das Exil, die Fremde, die Spannungen zwischen Europa und Brasilien.

Ana in Venedig, von der brasilianischen Kritikervereinigung zum „besten Roman des Jahres 1994“gekürt, ist das jüngste Werk des brasilianischen Autors João Silvério Trevisan. Der studierte Philisoph, der als Dramatiker, Drehbuch- und Romanautor arbeitet, bekam 1995 den Jabuti-Preis verliehen, eine der angesehensten Literaturehrungen seines Heimatlandes.

Prägend für den Romanstoff waren Trevisans Bewunderung für Thomas Mann und seine eigene „Exilerfahrung“als Brasilianer und Homosexueller im Ausland. Ana in Venedig basiert auf der wahren Geschichte von Julia Silvia Bruhns Mann, die als Siebenjährige ihre brasilianische Heimat Paraty verlassen mußte und in Lübeck aufwuchs. So thematisiert der umfangreiche Romanstoff auch die Familie Thomas und Heinrich Manns, Exilerfahrungen und den „Mythos des Südens“.

In dreijähriger Vorarbeit recherchierte der Autor Leben, Werk und Epoche der Protagonisten und liefert so eine Zeitreise, die bilderreich den Kontrast zwischen den Kulturen nachzeichnet. Teilweise etwas sehr ausführlich – die Musik- und Literaturkenntnisse sowie die historischen Milieuschilderungen sind extrem fundiert.

Wie Auszüge aus einem Trotzkopfroman erscheinen zunächst die Briefe der jungen Julia aus dem Mädchenpensionat in Lübeck. Doch Trevisans Stil verändert sich mit den beschriebenen historischen und gesellschaftlichen Veränderungen. Von der poetisch-verkitschten Naturbeschreibung bis hin zum brutal realistischen Stil der Gegenwart reicht das Erzählspektrum. Eine nahezu perfekte Dokumentation von Sprache und Kultur im Wandel der Zeit.

Die Erzählung funktioniert als Parabel, die durch einen Zeitsprung im letzten Teil des Buches in die Gegenwart versetzt wird. Der Komponist Nepomuceno findet sich wie von Zauberhand auf dem Berliner Flughafen des Jahres 1991 wieder. Ein Hinweis, daß sich im Grunde nichts geändert hat? Die Krise der Moderne ist zwar überwunden, doch die Gesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts steht vor einem neuerlichen Problem – philosophische, politische und ästhetische Werte scheinen hinfällig.

Maria Brombacher

Lesung heute, 19.30 Uhr, Zentralbibliothek, Große Bleichen

João Silvério Trevisan:„Ana in Venedig“, Eichborn Verlag, 739 Seiten