Ach komm! Von Martin Sonneborn

Am Anfang war der Urknall. Aus dem Nichts entstand die Erde, Atmosphäre bildete sich, Blitzschlag, Wind und Regen kamen. Dann Endmoränen, Glitsch, Gezeiten, Winter. Später entstand sogar noch Leben dazu, in seinen verschiedensten, teils herrlichen Ausprägungen; angeblich aus „grünem Schleim“, wie mein Kollege Thomas Gsella an anderer Stelle bereits „nachwies“. Technik, Kultur, Fernsehen folgten sowie diese kleinen blauen Plastikfische, die man aufziehen und in der Badewanne schwimmen lassen kann. Und zwischendrin aber auch noch – das wird oft gern übersehen – das Too- Beth-Syndrom.

Das einzige mir bekannte offiziell diagnostizierte Syndrom dieser Art besitzt ein Student aus Paderborn, wo Herr Gsella, Herr Schmitt und ich anläßlich einer Deutschlandreise pausierten. Als Gsella und ich im Uni-Pub ein Bedürfnis verspürten, ließen wir uns von einem Studenten der Physik die Herrentoilette zeigen und wandten uns den Pissoirs zu, während der Student sich in einer Kabine einschloß. Und dort begann, derart merkwürdige Laute auszustoßen, daß wir fragten, ob wir helfen könnten. Sofort stand der Herr wieder in der Tür, um uns mitzuteilen: Nein, er leide lediglich am Too-Beth-Syndrom. (Oder Two- Beth. Herr Gsella und ich waren betrunken; weil das Syndrom aber erst vor kurzem in Amerika erfunden wurde, kann man es noch nicht im Pschyrembel nachschlagen.) Jedenfalls erklärte uns der Inhaber, sein Syndrom habe drei Stufen, der Fachmann spreche auch von „Ticks“: Die erste gebe sich durch ruckhaftes, doch unkontrolliertes Kopfzucken zu erkennen, die zweite bei zusätzlichem leichtem Stöhnen. Die dritte und somit höchste Stufe aber, von der er glücklicherweise verschont geblieben sei, äußere sich durch das Bedürfnis des Erkrankten, in beliebiger Konversation zwanghaft und mit keineswegs gesenkter Stimme eher unpassende Aussprüche wie „Ficken! Ficken! Ficken!“ oder „Heil Hitler!“ zu streuen. „Ja leck mich am Arsch!“ lachte Herr Gsella. „Ach komm!“ johlte ich: Schon ab 33 hätten doch wohl eine ganze Menge Leute an diesem Syndrom gelitten, warfen wir ein, und daß man heutzutage seinen Lebenslauf besser sehr genau darauf einzurichten hätte. Schließlich könne man mit „Heil Hitler!“ wahrscheinlich eher Verbindungsmitglied, charismatischer Neonazianführer oder Aufsichtsrat werden; mit „Ficken! Ficken!“ hingegen habe man gute Chancen als Animateur (Club Med), Aufnahmeleiter beim Pornofilm oder Pandabärenwärter im Berliner Zoo. Immer weitere Beispiele fielen uns ein: Radiomoderatoren, die zwanghaft „Superoldies und das Beste von heute“ herausstoßen, Nina Ruge mit ihrem „Alles wird gut!“, ja, Herr Gsella selbst, der alle Weltgeschehnisse von der Vaterwerdung bis zum polizeil. Abschleppen seines schrottreifen Wagens unter den eigenen Augen mit „Ja, leck mich am Arsch!“ kommentiert. Sogar ich, obwohl im Besitz des Sprachführers „Sag es treffender“, neige keineswegs freiwillig dem permanenten Gebrauch der Universalfloskel „Ach komm!“ zu! Ja. Meine Güte, wurden wir kleinlaut, als wir merkten, daß es dem Physiker ernst war mit seinem Syndrom! Dann haben wir aber noch ein paar Bier zusammen getrunken, und es wurde noch ein richtig lustiger Abend...