■ In die USA auswandern darf nur, wer in den Besitz einer „Green Card“ gelangt. Nur 55.000 dieser Eintrittskarten werden alljährlich verlost Von Andrea Böhm
: „A Grien Card brauch i“

Sieben Millionen Menschen haben sich dieses Jahr um eine „Green Card“ beworben. Früher waren es „Erschöpfte, Arme und Bedrängte“ aus Europa, die nicht nur einen Blick auf die Freiheitsstatue erhaschen wollten. Heute sind es vor allem Flüchtlinge aus Südostasien. Für alle waren und sind die Vereinigten Staaten von Amerika das Gelobte Land, in dem jeder ganz von vorn anfangen darf.

Meine Freundin Clarice sagt, ich soll mir eine Green Card besorgen. Als Trumpf in der Hinterhand sozusagen, wenn's mir in Deutschland zu eng wird und ich mich vor Sehnsucht nach meinem rauchfreien Washingtoner Stammcafé verzehre. Außerdem hat sie niemanden mehr, der sich europäisch überheblich über die USA lustig macht und trotzdem am „Fourth of July“ mit ihr Wunderkerzen anzündet.

Ich soll mich also entscheiden, sagt sie: Entweder eine Green Card auf dem Schwarzmarkt kaufen. Ihr salvadorianischer Kassierer im Supermarkt kennt jemanden, der kennt jemanden, der die Dinger für 50 Dollar beschafft. Oder einen Amerikaner scheinehelichen – wie es Gerard Dépardieu im gleichnamigen Film „Green Card“ mit einer entzückenden Amerikanerin tat. Oder einfach eines dieser kostbaren Dokumente, die einem den unbefristeten Aufenthalt und die Arbeitsaufnahme in den USA erlauben, in der jährlichen Lotterie gewinnen.

Denn die Einwanderungsbehörde verlost jedes Jahr 55.000 Eintrittskarten für den „gewaltigen Film ,Amerika‘“. Der Titel stammt nicht von Clarice, sondern von Wladimir Majakowski, der sich das Land 1925 ansah, skeptisch blieb, nach Moskau zurückkehrte und fünf Jahre später Selbstmord beging. „Wäre er bloß hiergeblieben“, sagt Clarice, „hier gehört das Streben nach Glück zu den Bürgerpflichten.“

Genauer gesagt: Es steht in der Unabhängigkeitserklärung geschrieben – gleich neben dem „Streben nach Freiheit“ und dem Grundsatz, daß alle, zumindest alle weißen Männer, gleich seien, was im Lauf der Zeit dann um einige andere Bevölkerungsgruppen erweitert wurde. Diese Sätze haben – verbunden mit dem festen Glauben, daß es in den USA allemal besser sein muß als zu Hause – über die Jahre Millionen von Menschen angezogen, und just zu dem Zeitpunkt von Majakowskis Besuch zu einem aberwitzigen Bevölkerungsgemisch geführt.

Das hat ihn damals ebenso fasziniert und befremdet wie die Zustände in den Chicagoer Schlachthöfen oder die Vorliebe der etablierteren Amerikaner für grelle Krawatten und grelle Unterhaltung. Auch fiel Majakowski vor siebzig Jahren bei seiner Reise durch Amerika schon auf, daß selbst diejenigen, die ihre Lebensumstände erbärmlich fanden, die USA für das beste Land unter dieser Sonne hielten.

Das, erkannte der Dichter, waren schlechte Voraussetzungen für eine Arbeiterbewegung. „Sehr gut beobachtet“, findet Clarice – und wenn der Russe je das Vergnügen gehabt hätte, sie kennenzulernen, dann hätte sie ihm das auch einfacher darlegen können. „Europäer glauben, sie seien das Produkt ihrer Geschichte; Amerikaner glauben, sie machen ihre Geschichte selber.“

Typisch – eben kannte sie nicht einmal Majakowski; jetzt hätte sie ihm bereits unverfroren klug das Wesen der amerikanischen Gesellschaft und ihre Anziehungskraft auf uns Ausländer erklärt. Denn nichts wirkt stärker als das Versprechen, seine ganz individuelle Biographie neu schreiben zu können – auch wenn die mit den schlimmsten Dreckjobs beginnt. Und es mag erklären, warum das Wörtchen „Green Card“ einen verheißungsvollen Klang hat. Und warum jährlich sieben Millionen Menschen an der Lotterie für diese Eintrittskarten in die USA teilnehmen.

Zugegeben, mich hat die Idee mit der Green Card auch nicht kalt gelassen. Schwarzmarkt und Scheinehe schließe ich natürlich aus. „Das“, sage ich zu Clarice, „ging schon bei Dépardieu im Film schief.“ Aber die Unterlagen für die Lotterie habe ich mir schicken lassen – zumal mir schon seit Jahren eine Washingtoner Anwaltsfirma Postwurfsendungen hinterherschickt, in denen sie für 100 Dollar Hilfe beim aufwendigen Papierkram für die Lotterieteilnahme anbietet.

In Deutschland vertreibt inzwischen ein „German/American“ Verlag für „Marketing, Sales, Promotions“ wuchtige Aktenordner mit allen Tips, Infos und möglichen Motiven für die Immigration in die USA. „Unser Anliegen ist es, die Wohnungsnot und den Platzmangel in Europa – und hier speziell in Deutschland – zu beseitigen, indem wir versuchen, eine größere Auswanderungswelle nach Amerika zu initiieren.“

Das klingt ein bißchen dramatisch – als ob sich Containersiedlungen an Deutschlands Stadträndern auftürmten, deren Bewohner tagelang vor den amerikanischen Konsulaten Schlange stehen, um endlich der drangvollen Enge der alten Welt zu entkommen. So wie ihre Landsleute vor über hundert Jahren, die Armut, Militärdienst oder Bismarcks Sozialistengesetze hinter sich lassen wollten. Sieben Millionen Deutsche sind im 19. Jahrhundert emigriert – die meisten in die USA, nachdem sie sich das Geld für eine Schiffspassage dritter Klasse unter Deck nach New York zusammengekratzt hatten.

Die Neue Welt empfing sie auf Ellis Island in Gestalt von Einwanderungsinspektoren, die ihnen Fragen nach ansteckenden Krankheiten und unerwünschten Gesinnungen, nach geistigen Störungen, einem etwaigen Hang zur Polygamie oder zu umstürzlerischen Aktivitäten stellten. Danach zogen sie weiter ins babylonische Straßengewirr von New York. Von dort ging es gen Westen in Großstädte wie Chicago oder Kleinstädte wie Wausau, Wisconsin. Dort brachten deutsche Immigranten zum Entsetzen der Alteingessenen 1918 das Kunststück fertig, erstens die Bevölkerungsmehrheit zu stellen, und zweitens alle politischen Ämter der Gemeinde mit gestandenen Sozialisten zu besetzen.

Majakowski hätte seine Freude gehabt. Heute sind die German-Americans von Wausau mit den Yankees zu einer homogenen Gruppe verwachsen, die nun angesichts südostasiatischer Flüchtlinge um ihr Mainstreetimage und das soziale Gefüge fürchten. So ändern sich die Zeiten und sind sich doch verdammt ähnlich.

Niemand kommt heute noch auf Ellis Island an. Die Insel ist ein riesiges, wunderbar gestaltetes Museum, „in Gedenken an den Mut und die Willensstärke, mit der Männer und Frauen ihre Heimat verlassen und in einem unbekannten Land neue Chancen gesucht haben“. Nun ist es immer leichter, den Immigranten vergangener Epochen Respekt zu bezeugen, als denen, die gerade an die Tür klopfen. Aber der Satz ist ernst gemeint – zumal die Amerikaner ohne einen ständigen Zustrom von Immigranten niemanden hätten, der ihnen den Glauben an die unbegrenzten Chancen aufrechterhalten würde. Daß er für die einen Realität wird, für die anderen Illusion bleibt, ist eine andere Sache.

„Nehmen wir zum Beispiel deinen Onkel“, sagt Clarice mit sarkastischem Unterton. Zugegeben: Mein Onkel ist nicht gerade das Sinnbild des mutigen Einwanderers, der in der Neuen Welt zu neuen Grenzen aufbricht. Jedenfalls hat er genug Geld, um sich in Florida einen Bungalow zu kaufen und schließlich auf die Idee zu kommen, sich dort niederzulassen und ein Geschäft zu gründen. Einen amerikanischen Vertrieb für „Jägermeister“ und andere Spirituosen wollte er organisieren.

Klasse, dachte ich, und sah vor meinem geistigen Auge bereits den Werbeslogan „I drink huntermaster, because...“ Aber „a Grrien Card brauch' i“, lamentierte er in seinem kosmopolitischen Bayerisch. Wie er sie am Ende gekriegt hat, weiß ich nicht. Die meisten Kriterien für den Erwerb erfüllt er nicht. Verheiratet ist er schon mit einer Deutschen, amerikanische Verwandte hat er keine, als „Ausländer mit herausragenden Fähigkeiten“ galt er wohl auch nicht, und in der Lotterie hatte er Pech. Vielleicht hat er sie als „selbständiger Unternehmer“ bekommen, weil die Einwanderungsbehörde nicht wußte, was mit „Jägermeister“ auf ihr Land zukommt.

Jedenfalls gehört er zu jener kleinen deutschen Einwanderungswelle, die in den letzten Jahren über Florida geschwappt ist. Das sind nun nicht mehr die „Erschöpften, Armen und Bedrängten“, die sich einst an die Schiffsreling quetschten, um nach tage- und nächtelanger Seekrankheit einen Blick auf die Freiheitsstatue zu erhaschen. Es sind Vertreter der deutschen Wohlstandsgesellschaft, die nach Florida wegen der Immobilienpreise, der Steuersätze und des schönen Wetters kommen.

„Außerdem dürfen sie dort auf jeden Golfplatz“, sagt meine Freundin Clarice. Das weiß sie wiederum von ihrer Tante, die wie viele amerikanische Rentnerinnen ihren Lebensabend in Florida verbringt, dort den lieben langen Tag kleine weiße Bälle durch die Luft drischt und den Horrormärchen ihrer neuen Nachbarn lauscht, die in Hamburg oder Bad Schliersee nicht auf den Golfplatz gelassen wurden, weil ihre Spieltechnik zu schlecht war.

So ändern sich die Zeiten. Die einen flohen vor Bismarcks Knute, die anderen vor dem Elitarismus der deutschen Golfclubs. So hat der Grundsatz aus der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, wonach alle Menschen gleich geschaffen sind, für jede Generation ihre ureigene Bedeutung. Wenn mein Onkel wirklich gewieft wäre, würde er auf Floridas Golfplätzen jetzt T- Shirts mit der Aufschrift verteilen: „Ich trinke Jägermeister, because my only handicap is my German accent.“

Aber Leute wie mein Onkel sind natürlich nicht die typischen Green- Card-Aspiranten. Die heißen Kim, el-Aouni oder Muñez, haben meist eine dichter pigmentierte Haut, was aufgrund eines ungeschriebenen Gesetzes, welches die einen Diskriminierung und die anderen Dienstleistungsgesellschaft nennen, dazu führt, daß sie auf dem Golfplatz nicht spielen, sondern für zwei Dollar fünfzig den Rasen sprengen. Manche haben eine echte Green Card, manche eine gefälschte. Manche zählen zu jener Million Illegalen, die schon solange in den USA leben und arbeiten, daß sie nach einem Kongreßbeschluß vom vergangenen Freitag jetzt gegen Zahlung von 1.000 Dollar Bußgeld die Green Card bekommen können.

Irgendwann werden sie dann ihre Kinder, Eltern und Schwiegereltern, Schwestern und Brüder nachholen, die ihrerseits die Green Card bekommen und neue Einwanderungspyramiden aufbauen. Und irgendwann setzen sie sich dann auf die Warteliste für die Einbürgerung, auf der derzeit 1,6 Millionen Namen stehen. Nicht weil man sie nicht einbürgern wollte, sondern weil die Behörde pro Jahr nur 300.000 Anträge schafft. Egal, wie schnell sie arbeitet: In spätestens 50 Jahren wird der Anteil der weißen Amerikaner erstmals in der Geschichte der USA unter die 50-Prozent-Marke rutschen.

Meine Freundin Clarice hat mir – nicht etwa um diesem Trend entgegenzuwirken – den Fragebogen samt Antworten für den Einbürgerungstest mitgeschickt. „Damit du vorbereitet bist, wenn es in Europa endgültig zu eng geworden ist.“ Unter Punkt 86 soll man mindestens einen Vorteil nennen, den der Besitz der US-Staatsbürgerschaft mit sich bringt. „Das Recht, als Geschworener bei Gericht zu dienen“, steht unter den Antworten. Vielleicht bleibe ich doch erst mal hier.